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Andacht „Angedacht“ zur Monatslosung für den Monat November

ICH  WEISS, DASS MEIN  ERLÖSER  LEBT  (Hiob 19,25)

Als sich dann auch die eigene Frau vor ihm ekelt, ist Hiob  am Ende. Er hat alles verloren:  seine sieben Söhne, seine drei Töchter, seine Herden.  Eine Hautkrankheit quält ihn zum Verrücktwerden. Immer juckt es,  immer   kratzen. Und drei Freunde reden ihm lauter Blech ins Ohr, er sei selber schuld. Er verteidigt sich. Er klagt  Gott an: Wieso gerade ich? Und schließlich bricht es  doch aus ihm heraus:

ABER  ICH WEISS, DASS MEIN  ERLÖSER  LEBT!

ICH SELBST WERDE IHN SEHEN; MEINE AUGEN WERDEN IHN SCHAUEN.

DANACH SEHNT SICH MEIN HERZ IN MEINER BRUST.

Wer von uns hat in seinem Leben schon solches Leid erfahren  müssen? Wo blieb die Glaubenszuversicht so ungebrochen?  Auf mich wirkt  Hiobs  Kampf mit Gott eher einschüchternd.

Ich weiß auch, dass mein Erlöser lebt, aber ich weiß nicht, wie unsere indische Tochter später einmal zurechtkommen wird. Da hilft der Blick auf andere, die jetzt leiden, wirklich leiden, aber leise. Ohne Hiobs laute  Verzweiflung und seine trotzige Zuversicht:

Anni, früher Krankenschwester, koordiniert ehrenamtlich Besuche bei Sterbenden. So werden die Angehörigen in ihrer Sorge und Pflege jeweils für ein paar Stunden entlastet.  Hin und wieder  fragt sie die Patienten, ob sie eine Geschichte hören wollen.  Manche todkranke  Menschen hören lieber eine Geschichte als Musik oder einen Bibelvers.  Sehr viele Erzählungen hat Schwester Anni aber gar nicht parat. Da fragt sie ihre Freundin Kathrin,  die Pfarrerin. Kathrin berichtete unlängst darüber. Das hat mich sehr beeindruckt und ich erzähle es mal mit meinen Worten wieder. Meist läuft es so:

Anni schildert ihr, wer da liegt und um eine Geschichte bittet und gemeinsam überlegen sie.  Dann  wählt die Freundin  sorgfältig Texte aus der Literatur aus. Sie sollen ein Angebot zur Stärkung der Zuversicht sein.

So las Anni  einer Sterbenden einen Abschnitt aus der Erzählung „Weihnachten“ von Vladimir Nabokov  vor: Ein tieftrauriger Vater räumt an einem Winterabend das Zimmer seines kurz vorher gestorbenen jungen Sohnes aus. Er findet unter manchem Kram eine  große Schmetterlingspuppe, die er absichtslos mit hinüber ins geheizte Zimmer nimmt. Nach einigen Stunden ein leises Knacken: aus dem toten braunen Stückchen entfaltet sich ein wunderschöner großer Atlasspinner. Er bewegt leise die Flügel, er lebt. –Die Patientin hatte die Geschichte erst nicht zu Ende hören wollen. Später aber doch. Dann  weinte sie lange, wie befreit. Ihr Kokon war aufgebrochen. Endlich konnte sie weinen.

Manchmal berührt die Geschichte den Sterbenden auch nicht.  Aber schon die Erfahrung ist gut, dass  da jemand Zeit hat, sich ans Bett zu setzen und ruhig vorzulesen. Das wird als Geschenk erlebt. Immer wieder muss es dann derselbe Text sein.

Nach ihren Wünschen für Geschichten gefragt, sagte eine noch junge, schwerkranke Frau: „Ein bisschen Gott wäre schon schön, aber nicht zu viel.“ Kathrin formulierte selber für sie einen Text, versuchte ein Stichwort der Sterbenden aufzunehmen und es zu einem zuversichtlichen kurzen Vers zu formen. So schrieb sie  für die Frau, die nur „ein  bisschen Gott“ haben wollte:

„Ein bisschen Gott

ist groß genug,

um sich um unser bisschen Mensch zu legen

und es zu umarmen.“

Soviel aus  Kathrins  Bericht über ihre Zusammenarbeit mit Anni.

Bei Hiob suchen die Freunde zu trösten indem sie belehren und provozieren. Hauptsache, sie bleiben bei ihm. Hiob schimpft und hält auf laute Art an Gott fest. Die sterbenden Frauen und Männer lassen sich  auf leise Art  zuweilen doch noch von Gott umarmen.

Sein Angesicht schauen werden sie alle.

(Dorothea Kuhrau)