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Gedanken zur Tageslosung, Donnerstag 7. Mai 2020

Du bist ein Gott der Vergebung, gnädig und barmherzig, langmütig und reich an Güte.
Nehemia 9,17

Sind wir untreu, so bleibt er treu; denn er kann sich selbst nicht verleugnen.
2.Timotheus 2,13

Beide Bibelworte beschreiben die Größe und Wirkkraft der Vergebung Gottes. Wir Menschen können uns immer wieder als unbarmherzig und gnadenlos erleben. In medialen Vorverurteilungen von Menschen, wo die Schuld noch nicht einmal erwiesen ist, kann man das besonders gut beobachten. Wir Menschen behaften Menschen bei ihrer Schuld. Das ist menschlich, aber es zieht oft mehr Unheil nach sich als dass es gut wäre – bis hin zum Selbstmord derer, die am öffentlichen Pranger stehen – alles schon vorgekommen. Bei Gott ist das anders.

Wenn ich an die Größe und Wirkkraft Gottes denke, muss ich immer an eine persönlich erlebte Geschichte denken, die ich mein Leben lang nicht vergessen werde und die vor allem die Betroffene nie vergessen hatte. Ich war von 1991-1993 als Vikar (also in der praktischen Ausbildung als Pfarrer) in der Kirchengemeinde der Stiftung Tannenhof in Remscheid-Lüttringhausen tätig.  Zu meinen Aufgaben zählte die Seelsorge auf den Stationen von Nervenkranken und Psychisch-Erkrankten.

Eines Tages besuchte ich auch Frau R. auf ihrem Zimmer. Die erste Begegnung verlief sehr schwierig. Sie hatte die Bettdecke über den Kopf gezogen. Und reagierte auf mein Reden und Fragen so gut wie gar nicht. Das schreckte mich nicht ab, sie erneut zu besuchen. Das muss sie beeindruckt haben, denn beim nächsten Mal zog sie bereits die Bettdecke runter und die Begegnung gestaltete sich tatsächlich gesprächsartiger. Sie war mit Depressionen eingeliefert worden und war nicht mehr in der Lage zu laufen. Sie lag völlig apathisch da. Vor der Rente war sie in der Verwaltung tätig und malte in ihrer Freizeit. Ich wiederholte meine Besuche und mit der Zeit fasste sie großes Vertrauen und öffnete sich immer mehr bis hin dazu, dass sie mir eines Tages anvertraute, dass sie früher zur Zeit des Nationalsozialismus im Alter von 16 Jahren als Schreibkraft in der Verwaltung eines Konzentrationslagers gearbeitet habe. Sie sagte, dass sie ihre Schuldgefühle und Gedanken quälen würden und fragte mich, was sie denn nun machen solle? Ich spürte, wie sie förmlich von der Last der Schuld erdrückte wurde (unabhängig davon, wie stark überhaupt ihre eigenen Schuldanteile gewesen sein mögen – sie war ja noch eine Teenagerin und mitten in der Mordmaschinerie einer Diktatur). Nach einem Moment des Nachdenkens sagte ich: “Ja, Frau R., ich verstehe das sehr wohl, wie ungeheuer Sie das bedrückt. Das kann man nicht einfach ungeschehen machen. Legen Sie es im Gebet vor Gott! Sagen Sie ihm: ‘Gott, ich habe mich schuldig  gemacht. Vergib mir!’ Vertrauen Sie sich mit Ihrer Last Gott ganz an. Das wird Ihnen helfen. Sagen Sie ihm, wie es war und wie es heute für Sie ist und fangen Sie wieder an, Bilder zu malen – vielleicht auch gerade von dem, was Sie so bedrückt.”

Das waren meine Worte. Ein, zwei Wochen vergingen. Dann ereilte mich ein Anruf von der Station: “Herr Wenzel, Sie müssen unbedingt kommen. Mit der Frau R. ist etwas passiert!”. Ich lief zur Station und fürchtete, dass sie vielleicht gefallen ist oder sonst was. Sie saß normalerweise immer im Rollstuhl. Als ich nach ihr fragte, sagte die Pflegekraft mit einem Grinsen auf dem Gesicht: “Gehen Sie ruhig mal rein! Die Frau R. wartet schon.” Ich wusste das Grinsen nicht recht zu deuten und betrat nach einem Anklopfen neugierig das Zimmer. Frau R. begrüßte mich in ihrem Rollstuhl sitzend, wie immer und ich fragte, was denn geschehen sei. Da erhob sie sich langsam aus dem Rollstuhl und sprach: “Gucken Sie mal. Ich kann wieder laufen.  sie machte vorsichtig einige Schritte nach vorn auf mich zu.” Mir kamen die Tränen und ich wusste Gottes Vergebung hat eine große Wirkkraft. “Blinde werden sehend und Lahme werden gehend” – so hatten Menschen es damals mit Jesus erlebt und so durfte ich es selbst als Zeuge von Gottes Geist erleben. Vergebung hilft uns zum aufrechten Gang, aber es bedarf auch des Eingeständnisses von Schuld. Im wahrsten Sinne des Wortes ging mir diese Geschichte immer nach. Frau R. kam zu meiner Ordination als Pfarrer 1996 nach Köln – das ließ sie sich trotz ihres Alters nicht nehmen – und erzählte unter Tränen von ihrer Heilungsgeschichte. (Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel)