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Vortrag mit Musik über Albert Schweitzer vom 29. August 2021

„Glaubwürdig leben – Albert Schweitzer (1875 – 1965)“

Unter diesem Titel stand ein Vortragsabend von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel mit Musik, der Leben und Persönlichkeit von Albert Schweitzer (Arzt, Theologe, Philosoph, Musikwissenschaftler) nachzeichnete. Es musizierten Martin Glende (Klavier) und Johannes Glende (Kontrabass).

 

Hier das Manuskript des Vortrages:

 

Vortrag Glaubwürdig leben – Albert Schweitzer 1875 bis 1965 

Bild 1

Wenn es um die hochaktuelle Frage nach einem achtsamen und würdevollen Umgang mit Menschen, Tieren, Pflanzen, kurz mit dem gesamten Leben der Schöpfung unseres Planeten und des Universums geht, dann kommt man auch rund ein halbes Jahrhundert nach Albert Schweitzers Tod wohl kaum an seinem Namen vorbei.

Wie kaum ein Zweiter zeigte der universalgelehrte Arzt, Philosoph, Theologe, Organist und Friedensnobelpreisträger zu seinen Lebzeiten auf, wie alles menschliche wie nicht-menschliche Leben sowohl im eigenen Denken als auch im eigenen Handeln ethisch konsequent berücksichtigt werden kann.

Dies gelang ihm so eindrucksvoll, dass bis heute vor allem die Begriffe der »Ehrfurcht vor dem Leben« und »Lambaréné« untrennbar mit ihm und seiner wegweisenden Ethik verbunden geblieben sind.

Dass Schweitzer auch heute noch zu den fünf größten Vorbildern der Deutschen zählt, scheint angesichts seines beachtlichen Lebenswerks kaum verwunderlich.

 

Schweitzer, eines der fünf großen Vorbilder der Deutschen. Dieses Ergebnis einer Befragung möchte ich das Ergebnis einer anderen Befragung gegenüberstellen, nämlich einer Studie von Schell über die deutsche Jugend, in der vor einigen Jahren nach den Hoffnungsträgern der Jugendlichen gefragt wurde. Da wurde die Kirche erst an 12. oder gar 16. Stelle genannt. Ich erinnere mich nicht mehr ganz so genau. Entscheidend ist, Kirche als Hoffnungsträger ganz hinten, Schweitzer als Vorbild recht vorne.

 

„Glaubwürdig leben“ habe ich den Vortrag über Albert Schweitzer überschrieben, weil es hier nicht nur um irgendeine Biografie eines berühmten Mannes geht, sondern auch um die Frage nach Lebensentwürfen, Lebensmodellen. Lebensentwürfe und Lebensmodelle, die zukunftsträchtig sein können. Lebensentwürfe und Lebensmodelle, die Glaubwürdigkeit, also Authentizität besitzen und in dieser Eigenschaft letztlich auch orientieren und überzeugen können.

 

In einer Gesellschaft, die heute immer mehr in Auflösung begriffen ist verbunden mit der großen belastenden Hypothek einer drohenden und teils bereist erlebbaren Klimakatastrophe und auf der anderen Seite anfällig geworden ist für fundamentalistische, faschistoide oder Neonazi-Tendenzen, braucht es positive, gesunde, das heißt mit der Ehrfurcht vor dem Leben verbundene Vorbilder.

Und eine Gesellschaft, die zunehmend ihre christlichen Wurzeln verliert, braucht vielleicht nicht unbedingt eine Rückkehr zu Zeiten, wo die Kirche noch bedeutsam war und wie in einem Gottesstaat regierte, aber sie braucht den Blick auf diese Verwurzelung, um ihre Identität und Werte nicht zu verlieren, die heute andernfalls dem ungehemmten und über Leichen gehenden Kapitalismus geopfert würden.

 

Mich fasziniert an Albert Schweitzer also ganz stark vor allem die Frage nach einem glaubwürdigen christlichen Leben. Und hier „glaubwürdig“ im doppelten Sinne des Wortes. Ein Lebensmodell, das überzeugen kann durch seine Stringenz und Güte und gleichzeitig aber auch glaubwürdig im Sinne eines Lebensmodells, das dem Glauben selbst würdig ist, also den Glauben durch die Lebenspraxis bezeugt – adäquat und würdevoll. So gesehen als bezeugter und zugleich überzeugender Glaube.

 

Sicher sind Kirchenaustritte heute auch eine Folge oder ein Erscheinungsbild bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen. Aber ich persönlich bin der festen Überzeugung, dass es heute nicht so viele Kirchenaustritte gäbe, wenn wir deutlicher vernehmen würden, was denn ein konsequentes Lebensmodell im Sinne christlicher Identität wäre, also wenn für mehr Menschen greifbarer wäre, was authentischer Glaube bedeutet oder man zumindest darüber mehr ins Gespräch käme, denn ich will nicht unterstellen, dass Albert Schweitzer, der zur Heiligenfigur geworden ist – ja, sich selbst manchmal sogar so inszeniert hat -, das alles verkörperte und die übrigen Menschen in der Kirche heute nicht. Aber wir müssten darüber mehr ins Gespräch miteinander kommen, ohne dass hier die moralischen Zeigefinger dominieren.

 

Alles, was Albert Schweitzer gesagt und getan hat, kann man von seinem Grundverständnis als Christ und Theologe nicht trennen. Die Führungsriege der DDR z. B. hatte versucht, das zu trennen und ihn für sich politisch zu vereinnahmen, wie wir noch hören werden. Aber das geht nicht. Die Frage, die sich uns heute mit Albert Schweitzer stellt. ist: Wie sieht das eigentlich in deinem Leben aus? Was ist heute dein Grundverständnis als Christ? Wo wird dieses Christsein für dich in deinem Leben heute bedeutsam oder existentiell greifbar? Das wird nicht nur am Ende dieses Vortrags die Frage sein, die den ein oder anderen von uns beschäftigen wird, sondern es bleibt auch die Frage, die so lange an uns gestellt bleiben wird, so lange wir uns Christen nennen und sein wollen. Sie erledigt sich nicht mit einem Vortrag und auch nicht mit dem Vor-Sich-Hertragen der Heiligenfigur Schweitzer, sondern bleibt ein Widerhaken und bleibt eine Frage an mich selbst, der ich nicht ausweichen kann und die ich nicht an andere delegieren kann, sondern in und mit meinem Leben selbst beantworten muss.

 

Wenden wir uns aber nun Albert Schweitzer selbst zu.

Albert Schweitzer stammte aus einer alemannisch-elsässischen Familie. Geboren wurde er in Kaysersberg Bild 2 (hier im Bild sein Geburtshaus) als Sohn des Pfarrers Ludwig (bzw. Louis) Schweitzer, der eine kleine evangelische Gemeinde betreute, und dessen Frau Adele, geb. Schillinger, die selbst Pfarrerstochter war. Zu diesem Zeitpunkt gehörte seine Heimat als Reichsland Elsaß-Lothringen zu Deutschland. Noch im Jahr seiner Geburt zog die Familie von Kaysersberg nach Günsbach um. Seine Muttersprache war der elsässische Ortsdialekt des Oberdeutschen. Daneben wurde in seiner Familie auch Französisch gesprochen. Das Hochdeutsche erlernte Schweitzer erst in der Schule. Deutsch und Französisch beherrschte er fast gleich gut.

Er war das zweite Kind der Familie mit insgesamt sechs Kindern. Zusammen mit seiner älteren und den drei jüngeren Schwestern (wobei Emma sehr früh verstarb) sowie dem jüngeren Bruder verlebte er nach eigenen Aussagen eine schöne Kindheit. Zunächst war es nicht die Kirche selbst, die ihn fesselte, sondern vielmehr die Orgel, deren Klänge er bewunderte. Ihm wurde eine sorgfältige musikalische Ausbildung zuteil, die die Grundlage für sein späteres hervorragendes Orgelspiel und für seine Kenntnisse im Orgelbau bildeten. Zudem war er ein eher stilles Kind und vertiefte sich in französische sowie deutsche Literatur.

Nach dem Abitur 1893 in Mülhausen studierte er an der Universität Straßburg Theologie und Philosophie und machte dort sein Erstes Theologisches Examen 1898 Er war Mitglied der 1855 gegründeten Studentenverbindung Wilhelmitana Straßburg. Zudem studierte er in Paris Orgel bei Charles-Marie Widor, bei dem er seit 1893 schon gelegentlich Unterricht genommen hatte, und Klavier bei Marie Jaëll.

1899 hat er dann nach einem kurzen Studienaufenthalt an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität in Straßburg seinen Doktor in Philosophie gemacht. Seine Doktorarbeit schrieb er über „Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“

1901 folgte dann der Doktor in Theologie. Kritische Darstellung unterschiedlicher neuerer historischer Abendmahlsauffassungen (Erstauflage 1906), die in der zweiten Fassung den Titel Geschichte der Leben-Jesu-Forschung (Tübingen 1913) trägt.

1902 erfolgte an der Universität Straßburg seine Habilitation in Evangelischer Theologie mit der Schrift „Das Messianitäts- und Leidensgeheimnis“. Er wurde Dozent für Theologie an der Universität Straßburg. Seit 1898 war er auch Vikar, also in der praktischen Ausbildung zum Pfarramt an St. Nikolai in Straßburg tätig und blieb dort zur Anstellung weiter tätig als er seine zweite Theologischer Prüfung gemacht hatte. St. Nicolai ist eine in Straßburg bereits in der Reformation bedeutsame Kirche gewesen, da hier im 16. Jahrhundert neben anderen Reformatoren wie Martin Butzer auch Johannes Calvin gewirkt hatte und eine aus Frankreich stammende evangelische Flüchtlingsgemeinde betreut hatte.

Ein Teil der dortigen Predigten und Predigtentwürfe von Albert Schweitzer ist erhalten.

 

Schweitzer schrieb 1905 auf Französisch sein Buch über Johann Sébastien Bach, auf das 1908 eine neu verfasste deutsche Bach-Monographie folgte. Ein in Fachkreisen viel beachtetes Buch. Schweizer finanzierte später sein Hospital in Lambaréné unter anderem durch Orgelspielauftritte an den unterschiedlichsten Orten in Europa, besonders in Deutschland und Frankreich, wenn er nicht gerade in Afrika war. Er war ein viel beachteter Orgelspieler und Orgelkenner sowie Bachexperte und setzte sich sehr viel für den Erhalt historischer Orgeln ein. Auch kehrte er immer wieder gern an seinen Heimatort nach Günsbach um dort in der ihm von Kindheit auf vertrauten Kirche, in der sein Vater Dienst seinen Dienst als Pfarrer verrichtet hatte, zurück und gab dort auch Konzerte.

Ich habe hier ein historisches Filmdokument mitgebracht, damit wir mal von ihm einen Eindruck als Orgelspieler bekommen, nur eines seiner vielen Befähigungen bzw. großen Talente.

 

Einspielung: Orgelspiel in Günsbach

 

Schweitzers Entschluss, in Lambaréené im heutigen Gabun als Tropenarzt zu wirken, wird in den meisten Schweitzer-Biographien mit dem Opfer der eigenen akademischen Karriere gleichgesetzt.

Dieser Beurteilung widerspricht Nils Ole Oermann zu Recht, hätten doch die Rezensionen seiner Habilitationsschrift und der auch nach der Habilitation in der protestantisch-theologischen Fakultät in Straßburg aufgrund seiner theologischen Position anhaltende Konflikt Schweitzer erkennen lassen, dass eine Berufung auf einen theologischen Lehrstuhl nicht zu erwarten sei. Ganz anders stellte sich die Lage später 1930 dar, nachdem sein Werk Die Mystik des Apostels Paulus erschienen war und eine positive Aufnahme in der theologischen Fachwelt erfuhr. Noch im gleichen Jahr bot ihm die theologische Fakultät der Universität Leipzig eine Professur für Neues Testament an. Aber das war eben sehr viel später.

Im Unterschied zu vielen Darstellungen des Lebenslaufs von Albert Schweitzer und auch zu dessen Selbstdarstellung hat Oermann in seiner 2009 erschienen Biographie über Schweitzer auch herausgearbeitet, dass die Entscheidung, Arzt im Urwald zu werden und ein Medizinstudium zu diesem Zwecke zu beginnen, nicht unmittelbar auf den Vorsatz aus dem Jahr 1896 zurückging, wo er sich zum Ziel gesetzt hatte, später ab dem 30. Lebensjahr das eigene Leben dem Dienst am Mitmenschen zu widmen. Vielmehr war diese Entscheidung „mit einem langen Prozess des inneren Ringens verbunden“, der von 1902 bis 1905 währte. Dass Schweitzer nicht als Missionar, sondern – nach einem kompletten Medizinstudium – als Arzt ausreiste, war seiner liberalen theologischen Position geschuldet, an der die Missionsgesellschaft Anstoß nahm. Im Jahr 1905 wurde Schweitzer als Missionar bei der Pariser Missionsgesellschaft nämlich wegen seiner zu liberalen theologischen Ansichten abgelehnt.

Von 1905 bis 1913 studierte Albert Schweitzer also Medizin in Straßburg mit dem Ziel, in Französisch-Äquatorialafrika als Missionsarzt tätig zu werden.

So gesehen gab es zwar bei Schweitzer tatsächlich diesen Impuls, die akademische universitäre Welt zu verlassen und eine Form der Christusnachfolge in Afrika zu leben. Aber es war Ergebnis eines längeren Prozesses. Und er wollte auch nicht ursprünglich als Arzt dort hingehen, sondern als Theologe und Seelsorger, ja, als Missionar.

Freilich hatte er das sehr wohl als seinen Dienst am Menschen verstanden. Und man könnte rückblickend sagen: Aus dem ursprünglich missonarisch Motivierten wurde später ein durch Afrika und seine Menschen Missionierter und Inspirierter.

Die Immatrikulation zum Studium der Medizin war sehr kompliziert. Schweitzer war ja bereits Dozent an der Universität Straßburg. Erst eine Sondergenehmigung der Regierung machte das Studium möglich. 1912 wurde er als Arzt approbiert, im gleichen Jahr wurde ihm wurde im schließlich doch auf Grund seiner „anerkennenswerten wissenschaftlichen Leistungen“ der Titel eines Professors für Theologie verliehen. 1913 folgte seine medizinische Doktorarbeit: Die psychiatrische Beurteilung Jesu: Darstellung und Kritik. In dieser Arbeit widerlegt er zeitgenössische Versuche, das Leben Jesu aus psychiatrischer Sicht zu beleuchten.

Somit hatte er, im Alter von 38 Jahren und bevor er nach Afrika ging, in drei verschiedenen Fächern seinen Doktor gemacht, hatte also drei Doktortitel, hatte sich habilitiert und war Professor.

Schweitzer kennzeichnete in seinem theologisch wissenschaftlichen Arbeiten im Gegensatz zu vielen seiner Fachkollegen jener Zeit, eine besondere Offenheit für das Judentum wie auch die Verwurzelung Jesu im Judentum. Bei ihm gab es also eine Offenheit und „Ehrfurcht nicht nur vor dem Leben“, wie er es in späteren Jahren als ethischen Grundsatz herausgearbeitet hatte, mit dem er ebenso berühmt wurde wie durch seine vielen anderen Aktivitäten, sondern auch durch eine Ehrfurcht vor den anderen Religionen und Konfessionen. Er wurde nicht umsonst in späteren Jahren einer der großen Bekenner von Frieden und Versöhnung in der weiten Welt. Die konventionelle christlich theologische Wissenschaft war zu jener Zeit oft noch viel zu antijüdisch geprägt und trug damit mit dazu bei, dass sich der Anitsemitismus in Deutschland so breit machen konnte bis hin zur Katastrophe des Holocaust.

Diese Offenheit für das Judentum tangierte auch Schweitzers persönliches Leben. Albert Schweitzer heiratete 1912 Helene Bresslau (1879–1957), die Tochter des jüdischen Historikers Harry Bresslau und dessen Frau Caroline, geborene Isay. 1919 wurde die Tochter Rhena Schweitzer-Miller († 2009) geboren, die übrigens bis 1970 die Stiftung ihres Vaters weiterführte.

 

Schweitzer war also fast notgedrungen Mediziner geworden und nicht so planvoll, wie sich das sonst bisher dargestellt hat oder wurde. Es war, wie gesagt, ein innerer Prozess. Nachdem er im Herbst 1904 den Artikel ,,Les besoins de la Mission du Congo“ (Was der Kongomission not tut“ im monatlich erscheinenden Heft der Pariser Missionsgesellschaft gelesen hatte, schrieb er einige Zeit später am 13. Oktober 1905 in einem Brief an seine Eltern, dass er sich nach reichlicher Überlegung dazu entschlossen hatte ein Medizinstudium aufzunehmen und nach Ablauf dessen nach Französisch-Äquatorialafrika zu gehen, denn aus eben diesem Artikel ging hervor, dass dringend ein Arzt für die dortige Missionsstation gesucht werde.

Allerdings war der Entschluss nach Afrika zu gehen sicher eine Frucht seiner eigenen Auseinandersetzung mit dem Leben Jesu. Und es war weniger ein Wandel von einem Akademiker zu einem Praktiker als vielmehr der Versuch, das, was ihm an Erkenntnissen wichtig geworden war, auch selbst mit Leben zu füllen.

Das will ich kurz ein ganz klein wenig skizzieren. Der Schwerpunkt des frühen wissenschaftlichen theologischen Arbeitens von Albert Schweitzer war die Erforschung des Lebens Jesu, also die Frage nach dem historischen Jesus, nach dem, wer Jesus historisch wirklich gewesen ist, was er tat und vor allem, was seien Botschaft war, was er also tatsächlich selbst gepredigt oder gesagt hatte.

Seitdem sich die historisch-kritische Erforschung des Neuen Testaments und insbesondere der Evangelien sich etwa seit der Zeit der Aufklärung entwickelt und festgestellt hatte, dass die Evangelien nicht eins zu eins überliefern, was das tatsächliche historische Reden und Leben Jesu betrifft, sondern ihre Darstellungen recht unterschiedlich und teils sogar widersprüchlich sind oder zumindest erscheinen müssen, hat es in der neutestamentlicchen Fachwissenschaft immer wieder Versuche gegeben, den historischen Gehalt des Lebens und der Verkündigung Jesu zu rekonstruieren und gewissermaßen freizulegen von jedweden tendenziösen Darstellungen der unterschiedlichen Evangelienschreiber. Es war die Suche nach dem ursprünglichen Wort Jesu (die sogenannte Ipsissima vox) und auch der ursprünglichen Lebensdaten und Taten. Die Hoffnung, die man mit der Rekonstruktion des Ursprünglichen verband, liegt auf der Hand. Es sollte damit deutlich werden, wofür Jesus stand und wofür nicht. Diese Forschungsrichtung richtete sich vor allem gegen sogenannte christologische Aussagen, das heißt Aussagen über ihn als Christus, als der bezeugte Messias, die eher der Handschrift der Evangelienschreiber und des Paulus entstammten als auf Jesus selbst zurückzuführen waren. Er selbst, so hatte man festgestellt und auch immer wieder hervorgekehrt, was sicher nicht falsch ist, hat viele der Bezeichnungen oder Titel wie: „Messias bzw. Christus“ oder „Sohn Gottes“ oder „Menschensohn“ überhaupt nicht für sich selbst in Anspruch genommen.

Bei seiner Analyse der Geschichte der Erforschung des Lebens Jesu kam Schweitzer schließlich zu einem Schluss, der die damalige theologische Wissenschaft aufschreckte. In der 1906 von ihm verfassten  Geschichte der Leben-Jesu-Forschung mit dem Titel: Von Reimarus zu Wrede  wies er nach, dass fast alle wissenschaftlichen „Leben-Jesu“-Entwürfe die ethischen Ideale ihrer Autoren wiederspiegeln, die von ihnen in die Texte hineinprojiziert wurden. Etwas salopp und für Otto-Normalverbraucher formuliert: Jeder hat sich da sein eigenes Jesusbild selbst zurechtgebastelt, so wie es ihm gefiel.

Durch diese bilderstürmerische Attacke auf die wissenschaftliche  Objektivität und Redlichkeit vieler neutestamentlicher Kollegen oder Vorgänger war natürlich nicht zu erwarten, dass diese begeistert reagieren würden. Viele fühlten sich getroffen.

Schweitzer erkannte nur die Forschung von Johannes Weiß (Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 1892) als gültigen Beitrag zur historischen Erklärung der Verkündigung Jesu an. Weiß hatte nachgewiesen, dass Jesus das Reich Gottes als nahes, aber zukünftiges Weltende im Sinne des von Gott herbeigeführten Endgerichts verstand und nicht als innerseelische Gottesgegenwart, wie viele liberale Theologen dieses Sinnbild vom Reich Gottes auslegten.

So verwundert es nicht, dass Schweizer es anfangs schwer hatte, mit diesen demaskierenden kritischen Gedanken n der theologischen akademischen Welt in Straßburg oder andernorts zu landen. Im Volksjargon späterer Zeiten würde man Schweitzer wohl als Nestbeschmutzer bezeichnen. In Wirklichkeit hatte er nur den Spiegel vorgehalten.

Schweitzers Werk gilt heute als weitgehende Widerlegung der liberalen Leben-Jesu-Forschung. Das optimistische Vertrauen in die Rekonstruierbarkeit einer „Persönlichkeit“ Jesu und seiner biografischen Entwicklung hatte sich als unhaltbare Projektion sachfremder Interessen und Prämissen in die neutestamentlichen Quellen erwiesen. Damit war die Frage nach einem vom biblischen und kirchlichen Christusbild abweichenden historischen Jesus wieder völlig offen.

Die siebenjährige Studienzeit in Straßburg und Paris erschien ihm für seine kommende Lebensaufgabe nicht auszureichen. Es war das aufkommende neue Jahrhundert, das auch in dem jungen Gelehrten leuchtend aufdämmerte; nicht nur der eigene Horizont des Zeitgeistes, sondern auch jener der übrigen, benachbarten Welt erweiterte sich unaufhaltsam – bedingt durch den Kolonialismus auch gewaltsam. In Schwarzafrika – so wurde bekannt – mangelt es an medizinischer Versorgung. Namen wie Kongo, Ogowe, Lambaréné und eine Vielzahl schwerwiegender Mangel- bzw. Tropenkrankheiten tauchten vor seinem geistigen Auge auf. Seine von Theologie und Philosophie geprägt humanistische Weltanschauung, welche die ,,Ehrfurcht vor dem Leben“ als oberstes Gebot ansieht, setzte sich nunmehr mit dem Entschluss auch noch Arzt zu werden, schrankenlos durch.

Von seiner Beschäftigung mit der Leben Jesu-Forschung hatte er Erkenntnisse mitbekommen, die ihn bei seiner Entscheidung nach Afrika gehen und sich in den Dienst des Nächsten zu stellen, wesentlich motiviert haben dürften. Allgemein lasse sich keine Person durch historische Betrachtung wieder zum Leben erwecken, hielt er seine Erkenntnis fest. Daher sei unser Verhältnis zu Jesus ein mystisches. Wir können uns ihm also nur bedingt historisch, aber sehr wohl durch eine innere persönliche Beziehung annähern. In Beziehung zu ihm träten wir dadurch, dass wir ein gemeinsames Wollen und Anliegen erkennten und uns selbst in ihm wiederfänden. Wir ließen dabei unseren Willen von seinem klären, bereichern und beleben. Die christliche Religion sei demnach nicht Jesuskult, sondern Jesusmystik. Ähnlich wie bei den Jüngern am See Tiberias (Joh 21) komme Jesus auf uns zu als „ein Unbekannter und Namenloser“. Und er rufe uns zu „Du aber folge mir nach!“

„Und denjenigen, welche ihm gehorchen, Weisen und Unweisen, wird er sich offenbaren in dem, was sie in seiner Gemeinschaft an Frieden, Wirken, Kämpfen und Leiden erleben dürfen, und als ein unaussprechliches Geheimnis werden sie erfahren, wer er ist.“

 

Musik 1 Wir haben eben von der erneuten Begegnung des Auferstandenen am See Tiberias mit seinen Jüngern gehört. Der Fisch ist ja bekanntlich ein Symbol der Christen und der Zugehörigkeit zu Christus – wir hören: Die Forelle  Schubert

 

1912 gab Albert Schweitzer die theologische Lehrtätigkeit an der Universität sowie das Predigeramt zu St. Nikolai auf und betrieb zusammen mit seiner Frau eifrig Reisepläne für Afrika. Am Abend des 26. März 1913 betraten Albert und Helene Schweitzer in Pauillac bei Bordeaux das Schiff, das beide nach Afrika bringen sollte. Im Laufe seines Lebens unternahm er die Reise von Europa nach Lambaréné dreizehnmal. Am 14. April erreichte das Schiff Kap Lopez an der Ogowemündung. Dort stiegen sie – ohne der in 70 Kisten verpackten Ausrüstung – auf den Flußdamper ,,Alembe“ um, welcher sie die 300km flussaufwärts nach Lambaréné bringen sollte. Die Ausrüstung konnte erst nach zwei Wochen mit dem nächsten Dampfer nachgeliefert werden. Nachdem Schweitzer erkennen musste, dass die Station keine Ausgangsposition für ein Hospital bot, denn die versprochene Wellblechbaracke war noch nicht aufgebaut worden, da es an Arbeitskräften mangelte. Diese hatten sich dem florierenden Holzhandel verschrieben. Als das Hospital aufgebaut war, arbeite Schweitzer bis 1914 in Lambaréné; am 5. August traf die Nachricht vom Krieg in Europa ein und am Abend erscheint ein Gendarmerieposten mit einem Kommando schwarzer Soldaten auf der Missionsstation. Schweitzer, als Elsässer deutscher Staatsbürger und zudem Reservist der deutschen Armee, wird gefangengesetzt. Weder er noch seine Frau dürfen das Wohnhaus verlassen; Spital und Missionsstation dürfen nicht betreten werden. Nach mehr als vier Jahren Aufenthalt in Afrika (bereits nach zwei Jahren wäre eine Europareise notwendig gewesen), kehrte das Ehepaar Schweitzer [unter Bewachung] zurück. Man brachte sie schließlich in das Internierungslager Garaison in den Pyrenäen, einstmals ein Kloster, welches sich nun seit Jahrzehnten im Verfall befand. Auch dort behandelte Schweitzer die Kranken. Nach einigen Austäuschen gelangte das Ehepaar am 15. Juli 1918 zurück nach Strassburg, von dessen Anblick sie – trotz der Dunkelheit, denn man versuchte die Stadt vor Fliegerangriffen zu schützen – erschüttert waren. Zurück im Elsass nahm er die Vikarstelle zu St. Nikolai wieder an. Zu dieser Zeit war kaum an Orgelkonzerte zu denken; zudem beanspruchten ihn sowohl die Arzttätigkeit als auch sein Predigeramt. Um mit der Bachschen Musik in Kontakt zu bleiben, beschäftigte er sich mit den Choralvorspielen Bachs. Er wartete ungeduldig darauf, dass man ihm aus Afrika das Manuskript der Kulturphilosophie senden würde. [s. III. S.6] Als Vorlesungsthema benutzt, wiederholt redigiert und überarbeitet, wurde sie 1924 unter dem Titel ,,Das Christentum und die Weltreligionen“ veröffentlicht. Inmitten des betrüblichen Nachkriegsalltags stellte die Geburt ihrer Tochter Rhena am 14. Januar 1919 [dem 44. Geburtstag Alberts] für die Schweitzers eine besondere Freude dar. In den Predigten am 16. Und 23. Februar zu St. Nikolai sprach er zum erstenmal den Gedanken der ,,Ehrfurcht vor dem Leben“ [s. III, S.4] öffentlich aus. Es ist nicht bekannt, ob diese Predigten bei den Zuhörern seiner Gemeinde besondere Wirkung auslösten oder gar Anstöße zu neuem Denken vermittelten. Für ihn selbst aber war eines bedeutungsvoll: er fühlte sich verstanden. Obwohl er in der bisherigen Zeit nach dem Krieg nicht von der Strassburger Universität in irgendeiner Weise gewürdigt worden war, erhielt er im Oktober 1919 doch die Bestätigung, nicht vergessen worden zu sein: Es erreichte ihn die Einladung zu einem Orgelkonzert nach Barcelona. Eine weitere Einladung erhielt er für Ostern 1920: Erzbischof Nathan Söderblom aus Schweden lud ihn ein, religionsphilosophische Vorlesungen für die Olaus-Petri-Stiftung an der Universität Upsala zu halten. Nachdem der Erzbischof Empfehlungen an verschiedene Städte Schwedens geschickt hatte, bereitete Schweitzer eine ausgiebige Konzert- und Vortragstournee vor. Mitte Juli 1920 verließ das Ehepaar Schweitzer Schweden wieder. In der Zeit, die er im Norden verbrachte, hatte er den Beschluss gefasst, sein durch den Krieg unterbrochenes Hilfswerk in Afrika fortzusetzen; jedoch machte er diese Entscheidung noch nicht bekannt. Zunächst verfasste er seine Afrikaerinnerungen. Bald verbrachte Schweitzer einen Großteil seiner Zeit wieder mit Vorträgen und Konzerten. Am 14. Februar 1924 verabschiedete sich Schweitzer von seiner Familie und seinen Freunden in Strassburg und machte sich zum zweiten Mal auf die Reise nach Afrika; seine rechte Hand wurde Emmy Martin. Am 19. April 1924 erreichten sie Lambaréné. Nachdem Schweitzer erkannt hatte, dass das Hospital zwar dringend erweitert werden musste, da der Platz nicht mehr ausrreichte für die Kranken, die nicht selten lange Wege auf dem Ogowe zurückgelegt hatten, doch dass dies in der Senke, in der die bisherige Station erbaut worden war, nicht möglich gewesen wäre, fasste man den Beschluss, ein zweites Spital zu bauen. Wiederum ergab sich das Problem mangelnder Arbeitskräfte bzw. Koordination, so dass man die Angehörigen der Erkrankten überreden musste, am Aufbau mitzuwirken. Die Bauleitung übernahm Schweitzer selbst; abends assistierte er bei Operationen in der alten Station. Der Aufbau des neuen Spitals war so weit vorangeschritten, dass man am 21. Januar mit dem Umzug beginnen konnte. Mit diesem neuen Hospital begann Lambaréné zum Weltbegriff zu werden. Journalisten, Wissenschaftler der verschiedensten Gebiete, Künstler, vor allem namhafte Schriftsteller, aber auch Politiker begannen sich für den Mann zu interessieren, der alle Karrieren, die ihm die zivilisierte Welt bot, ausschlug, um als Arzt in den Urwald zu gehen. Die Berichte, die aus dem fernen Afrika kamen, dass ein Philosoph, Orgelspieler und Arzt, dem eigenen Gewissen folgend, armen Kranken half, rührten das herz Hunderttausender einfacher Menschen. Die ersten Wellen der Sympathie erreichten Lambaréné. Begann das Beispiel, das Schweitzer den Gutwilligen geben wollte, zu wirken? Ehrfurcht vor dem Leben! Fand diese Gesinnung – im Urwald so eindrucksvoll demonstriert – Einlass in das Denken der Menschheit? Am 21. Juli 1927 trat er – nach erneutem 3 ¼-jährigen Aufenthalt in Afrika – die Rückreise nach Europa an. Doch den Zweiundfünfzigjährigen lässt die selbstgestellte Aufgabe keine Ruhe finden. Er fühlt sich der ,,Bruderschaft der vom Schmerz Gezeichneten“ verpflichtet. Auch in Europa im Kreise der Familie gibt es kein Ausruhen. ,,In meinem eigenen Dasein sind mir Sorge, Not und Traurigkeit zuzeiten so reichlich beschieden gewesen, dass ich mit weniger starken Nerven darunter zusammengebrochen wäre. Schwer trage ich an der Last von Müdigkeit und Verantwortung, die seit Jahren ständig auf mir liegt. Von meinem Leben habe ich nicht viel für mich selber, nicht einmal die Stunden, die ich Frau und Kind widmen möchte. Als Gutes ist mir zuteil geworden, dass ich im Dienste der Barmherzigkeit stehen darf, dass mein Wirken Erfolg hat, dass ich viel Liebe und Güte von Menschen erfahre, dass ich treue Helfer habe, die mein Tun zu dem ihren machen, dass ich über eine Gesundheit verfüge, die mir angestrengtes Arbeiten erlaubt.“ Paul Herbert Freyer ,,Ein Lebensbild“.

So wie sein Theologe und Pfarrersein nicht von seinem humanen und sozialem Engagement unmöglich zu trennen sind, sind auch Schweitzers Ansichten zum Orgelspiel von seinen religiösen Vorstellungen nicht zu trennen. So meint er z. B. in Bezug auf die Wiedergabe von Orgelwerken im Konzertsaal:

„Durch die Wahl der Stücke und die Art der Wiedergabe suche ich den Konzertsaal zur Kirche zu machen. […] Durch ihren gleichmäßigen und dauernd aushaltbaren Ton hat die Orgel etwas von der Art des Ewigen an sich. Auch in dem profanen Raum kann sie nicht zum profanen Instrument werden.“

– Albert Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken[22]

 

Musik 2 „Rondo, Schlehmüller“

und danach Getränkepause

 

Am 28. August 1928 wurde ihm als zweiten, nach Stefan George 1927, der Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main verliehen. Das war die öffentliche Würdigung für Schweitzer in Deutschland. Nachdem die Presse in vielen Ländern wiederholt von dem ,,Urwaldarzt“ in Lambaréné berichtet hatte, begann man nun auch in Deutschland Interesse zu zeigen. Natürlich wurde in der bürgerlichen Presse besonders darauf verwiesen, dass Schweitzer Elsässer deutscher Nationalität sei. Neben den Honoraren flossen natürlich auch nach wie vor mancherlei Spenden in die Spitalkasse. Ursprünglich hatte Schweitzer nicht die Absicht, den Europaaufenthalt so lange auszudehnen. Aber das große Interesse der Öffentlichkeit an seinem Afrikawerk, an seiner Kunst und auch an seinen Vorlesungen steigerte sich derart, dass er den Termin für die Rückreise immer wieder hinausschob. Albert Einstein war nicht nur an Schweitzers Orgelspiel interessiert, sondern führte mit ihm so manche Diskussion über den Weltzustand. Ebenso ein herzlicher Freund war Stefan Zweig, der seine Verehrung für den Humanisten in poesievollen Traktaten ausdrückte. Auch mit dem langjährigen Freund Romain Rolland gab es Begegnungen. Von ihm erfuhr Schweitzer von den Entwicklungen in der jungen Sowjetunion. Rolland, der Literatur-Nobelpreisträger von 1915, unternahm gemeinsam mit Oskar kraus in den Jahren 1930 bis 1932 einige Anstrengungen, Schweitzer für den Nobelpreis vorzuschlagen. Auch mit Sir Winston Churchill machte Schweitzer Bekanntschaft. Während der Zeit des spanischen Bürgerkriegs war es für Schweitzer selbstverständlich, an der Seite des spanischen Volkes zu stehen, an der Seite von Picasso und Pablo Casals. In den Jahren 1928 bis 1929 hielt sich Schweitzer wiederholt in Günsbach auf, wo er ein Haus erstand, dass als ,,europäisches Hauptquartier“ galt und von dem aus Emmy Martin den Nachschub an Personal und Material für Lambaréné organisierte. Das Krankendorf selbst – wie Schweitzer es vorzugsweise zu nennen pflegte – war auch Symbol der selbstlosen Hilfe in Schwarzafrika geworden. Die Presse, die sich immer mehr für den ,,Negerdoktor“ und ,,seine Urwaldklinik“ interessierte, trug dazu bei, dass sich Ärzte und Krankenschwestern in ausreichender Zahl, meist junge Leute, zur Verfügung stellten. (Ungleich also der Situation, aus der heraus Albert Schweitzer zu Beginn beschlossen hatte Medizin zu studieren.) Dem Menschen zu dienen, hatte dereinst der zwanzigjährige Student geschworen. Es ist einer der mannigfachen Fälle, dass ein Mensch Entbehrungen und Enttäuschungen auf sich nahm, so wie er es sich vorgenommen hatte, um anderen ein Leben lang zu helfen, obwohl die Gesellschaft bereit war, seinen Talenten erfolgreiche Karrieren zu bieten. Es ist aber auch einer der seltenen Fälle, die weltweite Beachtung fanden. Am 22. März 1932, dem 100. Todestag Goethes, hielt er eine Gedenkrede, um die ihn die Stadt Frankfurt am Main geboten hatte. [Auszug aus der Rede: Anlage VIII ] Gerade durch die künstlerische Meisterschaft seines Orgelspiels schuf bei den vielen Bewunderern das Bild der Vollkommenheit eines aufrichtigen Humanisten. Viele Künstler und Wissenschaftler suchten seine Nähe. Aber auch die Politiker wurden auf den Mann aufmerksam, dem überall zugejubelt wurde. Am 9. Julie 1932 hielt er einen Goethe-Vortrag in Ulm. Wiederum zeigte er sich besorgt ob der Lage der Kultur. Schweitzer sah das Unheil, das über Deutschland heraufzog, sehr deutlich; er machte aus seiner ablehnenden Haltung gegenüber dem Faschismus keinen Hehl. Zwar nahm er nicht an politischen Auseinandersetzungen des Alltags nicht teil, so verhielt er sich jedoch auch nicht gleichgültig. Die Entwicklungen, die sich sowohl in der Weimarer Republik als auch Europa zeigten, schienen seine Analyse des Kulturzerfalls immer deutlicher bestätigt erscheinen. Seine Rückreise nach Afrika fand im März 1933 statt. Während der Zeit des Faschismus hatte er deutschen Boden nicht betreten. [Einstellung zum Faschismus: Anlage ] Auch Helene Schweitzer hatte auf die veränderte Situation reagiert, das Haus im Schwarzwald verlassen und in Lausanne eine kleine Wohnung gemietet, in der sie zusammen mit ihrer Tochter Rhena von 1933 bis 1937 lebte. Den Sommer 1934 verbrachte die Familie Schweitzer gemeinsam in Günsbach. Jedoch schon nach einjährigem Aufenthalt in Lambaréné kehrte Schweitzer zurück. Er hatte nun, trotz seiner ärztlichen Tätigkeit, mehr und mehr Zeit für Orgelspiel und Denkarbeit, so dass er sich mit den indischen Denkern befasste. Die Darstellung und Deutung des Brahmanismus und vor allem der Lebensgeschichte Buddhas und seiner Lehre sind ein hervorragender Beitrag zur Geschichte der Weltkultur. Aus verschiedenen Städten der Vereinigten Staaten kamen Einladungen. Da Helene Schweitzer das äquatoriale Klima nicht vertrug, übernahm sie zur Unterstützung ihres Mannes und letztlich auch als Publicity für das Hilfswerk die Aufgabe dieser Vortragsreise durch Amerika. In Lambaréné erreichte Schweitzer am 1. September 1939 die Nachricht, dass in Europa der Krieg ausgebrochen war. Für Schweitzer kam diese Nachricht nicht überraschend, da er von dieser Gefahr ausgegangen war. Dennoch sorgte er sich um Familie und Freunde. Auch die Nachricht vom Kriegsende erhielt der Humanist in Afrika, am 7. Mai 1945. Das beinahe zehnjährige Leben im Urwald war für Schweitzer und seine Helfer sehr entbehrungsreich gewesen, und im Oktober 1948 kehrte er schließlich nach Europa zurück. Dort erwartete ihn die Gewissheit, dass viele seine Freunde nicht mehr anzutreffen waren. [,,Romain Rolland war 1944 gestorben. Stefan Zweig hatte der Faschismus verjagt, er war 1942 in Brasilien aus dem Leben geschieden. Sein Prager Freund Oskar Kraus war in England an den Folgen der Folterung gestorben, die er im Konzentrationslager erlitten hatte. Es waren viele Bekannte und Freunde, die der Krieg und der Faschismus verschlungen hatten, auch mehrere Angehörige der Verwandtschaft seiner Frau.“, Paul Herbert Freyer ,,Ein Lebensbild“, S.215 ] Völlig überraschend traf ihn das Angebot der Universität Chicago, die Festrede zum 200. Geburtstag Goethes am 9. Juli 1949 in Aspen (Colorado) zu halten. Dieses Angebot nahm er nur wegen der dafür gebotenen $ 6100 an, welche die beträchtlich erschöpfte Spitalkasse sanieren sollten. Am 24. Oktober 1949 reiste er erneut zusammen mit seiner Frau nach Lambaréné, da er sich um den Zustand seines Krankendorfes sorgte. Angesichts der Tatsache, dass der Krieg zwar inzwischen vorbei war, sich aber kein wirklicher Friede zeigen wollte, verfiel Schweitzer in ein neues Denkverhalten. Er fragte sich, ob es genügte, die eigene Überzeugung nur vorzulegen? ,,Das Beispiel, das er der Menschheit geben wollte, hatte wenig genutzt. Man war darüber hinweggegangen. Ungerechtigkeit in der Welt, Hunger, Not und Elend, Tag um Tag. Zwei verheerende Kriege kurz hintereinander. Stand ein dritter bevor? Ehrfurcht vor dem Leben! War es nicht an der zeit, den ganzen Einfluss aufzubieten und mitzuhelfen, das zu verhindern? An jenem tragischen 6. August 1945, als die erste Atombombe fiel, begannen für Schweitzer erste Ansätze eines neuen Denken. Die Welt wird das Ungeheuerliche nicht einfach hinnehmen. Er erkannte die Herausforderung. Dem Christen Schweitzer war klar, dass diese von Menschenhand gezeugte Waffe kein Jüngstes Gericht darstellte, um ein für allemal Frieden zu erzwingen, sondern für ihn war sie grausige Geißel. Und ihr rücksichtsloser Einsatz schließlich wäre das Ende aller, ohne Gottes Gnade.“, Paul. H. Freyer ,,Ein Lebensbild“ Am 20 Oktober 1952 erhielt er die höchste Ehrung, die Frankreich zu vergeben hatte. Er wurde zum ordentlichen Mitglied der ,,Académie Française“ gewählt. Im Oktober 1953 wurde ihm der Friedensnobelpreis für 1952 verliehen. Schweitzer konnte den Preis allerdings erst bei seiner nächsten Europareise 1954 entgegennehmen. Der Preis, der mit umgerechnet 220 000Mark [Angaben aus einem Buch von 1978] dotiert war, trug, wie bereits das Honorar für seine letzte Goethe-Rede, wesentlich dazu bei, dass das Lepradorf neben dem Hospital in Lambaréné gebaut werden konnte. Am 22. Mai 1957 musste Helene Schweitzer eiligst mit dem Flugzeug nach Europa gebracht werden. In einem Züricher Krankenhaus verstarb sie am 1. Juni im Alter von 78 Jahren. Ihrem Wunsche entsprechend wurde ihr Leichnam eingeäschert und die Urne nach Afrika überführt. Am 9. Dezember 1959 nahm Schweitzer das letzte Mal Abschied von Europa. Er wollte konsequent seine letzten Tage dort verbringen, wo er für die Menschlichkeit gearbeitet und gestritten hatte. Am 21. August 1965 erlitt er einen Schwächeanfall, der sofortige Liegeruhe notwendig machte. Am 4. September desselben Jahres starb er. Sein schlichtes Grab befindet sich neben dem seiner Frau.

 

Musik 3 „Une Larme“ (eine Träne)

 

Engagement gegen atomare Rüstung und Krieg

 

Albert Schweitzer hat versucht, sich möglichst wenig in politische Auseinandersetzungen hineinziehen zu lassen. Dies änderte sich allerdings mit seinem Engagement gegen die atomare Rüstung. Bereits am 14. April 1954 schrieb er einen Leserbrief im Daily Herald, London, „Die Folgen der Wasserstoffbomben-Explosion bilden ein höchst beängstigendes Problem. … Erforderlich wäre, dass die Welt auf die Warnrufe der einzelnen Wissenschaftler hörte, die dieses furchtbare Problem verstehen. So könnte die Menschheit beeindruckt werden, Verständnis gewinnen und die Gefahr begreifen, in der sie sich befindet.“ Bei der Rede anlässlich der Übergabe des Friedensnobelpreises vom 4. November 1954 in Oslo mit dem Titel Das Problem des Friedens in der heutigen Welt äußerte er sich erneut zur Gefahr der Atomrüstung.

 

Albert Schweitzer wurde von mehreren Freunden, unter anderem Albert Einstein und Otto Hahn, gedrängt, seine Autorität gegen die Atomrüstung einzusetzen. Er zögerte allerdings, weil er sich zunächst nicht kompetent genug fühlte. Endgültig überzeugte ihn dann allerdings der Publizist Norman Cousins. Nachdem er sich intensiv auch mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Atomphysik und den Folgen von Atomwaffentests auseinandergesetzt hatte und brieflich und persönlich befreundete Fachleute wie Werner Heisenberg, Frédéric Joliot-Curie und Albert Einstein befragt hatte, sendete er am 23. April 1957 über den Sender Radio Oslo einen „Appell an die Menschheit“.[36] Dieser Appell erfuhr weltweite Aufmerksamkeit und wurde in 140 Sendern übernommen. Am 28., 29. und 30. April 1958 folgten drei weitere Appelle, „Verzicht auf Versuchsexplosionen“, „Die Gefahr eines Atomkrieges“, „Verhandlungen auf höchster Ebene“ die vom Präsidenten des norwegischen Nobelpreiskomitees, Gunnar Jahn vorgelesen wurden. Sie wurden unter dem Titel „Friede oder Atomkrieg“ gedruckt. Schweitzer gehörte 1958 neben Otto Hahn zu den prominentesten Unterzeichnern einer von Linus Pauling initiierten Unterschriftensammlung bei namhaften Wissenschaftlern gegen die Atomversuche. Schweitzer trat auch der 1957 gegründeten amerikanischen Friedensgruppe National Committee for a sane nuclear policy (SANE) bei.[37]

 

Schweitzer wurde für sein Engagement und seine Aussagen neben vielfacher Zustimmung auch heftig angegriffen. Die Neue Zürcher Zeitung schrieb am 10. September 1958 unter dem Titel „Seltsamer Albert Schweitzer“: „Der verehrte Name Albert Schweitzers darf nicht davon abhalten, festzustellen, dass dieses Dokument politisch und philosophisch, militärisch und theologisch wertlos ist. Das Wagnis, das er dem Westen zumutet, ist an sich schon ungeheuerlich. Das Urteil über Amerika und die Sowjetunion anderseits macht es vollends unmöglich, Albert Schweitzers Rat ernsthaft in Erwägung zu ziehen.“

 

Nach dem Abschluss des Versuchsstoppabkommens im Jahr 1963 beglückwünschte Schweitzer John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow brieflich zu ihrem „Mut und Weitblick, eine Politik des Friedens einzuleiten“. Allerdings protestierte er im selben Jahr noch einmal öffentlich gegen die nach dem Vertrag weiterhin erlaubten unterirdischen Kernwaffentests.

 

Musik 4 Frieden – Regenbogen „Over the Rainbow“ (bekannte Melodie) Jazz-Arrangement von Henning Gailing, Johannes Kontrabass-Lehrer.

 

Schattenseiten

 

In seiner Biographie verschweigt Nils Ole Oermann nicht die Schattenseiten des „Grand Docteur“ Albert Schweitzer, wenn er z. B. aus unterschiedlicher Perspektive dessen Verhältnis zu den Schwarzen beleuchtet (201-212). Dabei zieht er folgendes Resümee: „Es überrascht nicht, dass gerade von vielen Afrikanern spätestens mit der Dekolonialisierungsbewegung der fünfziger Jahre nicht nur Bewunderung, sondern auch harsche Kritik an Schweitzers patriarchalischem Führungsstil geäußert wurde. […] Schweitzer unternahm keine Anstrengungen, schwarze Ärzte auszubilden oder Lambarene in die Hände von Schwarzen zu geben. Er beutete aber im Gegensatz zu den meisten Siedlern die Afrikaner nicht aus, sondern heilte sie. Das tat er im Bewusstsein der Schuld, die das koloniale Europa über Jahrhunderte auf sich geladen hatte.“ (211 f.)

 

Kritik an seinem karitativen Wirken

 

Ende der 1950er Jahre – ausgehend von einem Artikel im Spiegel vom 3. Juli 1957 – wich die Verehrung Schweitzers einer kritischen Bestandsaufnahme seines Hospitals. Diese Kritik wurde damals von Edmund Duboze zurückgewiesen, dem damaligen Generalinspektor des militärärztlichen Dienstes Gabuns.[38] Siegwart-Horst Günther, Mitarbeiter Schweitzers, bezeichnet die Kritik als oberflächlich, subjektiv und gehässig.[39]

 

Viele kritische Äußerungen richteten sich vordergründig gegen Schweitzers Tätigkeit in Lambaréné, zielten aber offensichtlich auf die Diskreditierung seines öffentlichen Ansehens als Friedensnobelpreisträger im Zusammenhang mit seinem Engagement gegen die Atomrüstung (Appell an die Menschheit vom 23. April 1957) und für die Friedensbewegung ab Mitte der fünfziger Jahre.[40][41] Theodor Heuss, den er noch aus seiner Jugendzeit kannte und den er bei dessen Heirat getraut hatte, beanstandete Schweitzers Briefwechsel mit Walter Ulbricht bzw. der DDR-Führung.

 

Hierzu eine Filmeinspielung

 

Musik 5 „Summertime“

 

 

Musik 1 Die Forelle  Schubert

 

 

 

 

 

 

  1. Die Forelle  Schubert
  2. Rondo, Schlehmüller
  3. Une Larme, Rossini
  4. Over the Rainbow (bekannte Melodie)
  5. Summertime