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Der gute Hirte - copyright: KNA

Predigt vom 18.04.2021

(von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel, gehalten in der Versöhnungskirche in Rath-Heumar und der Auferstehungskirche in Ostheim (siehe auch Audio-Predigt))

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

wenn von Hirten im übertragenen Sinn die Rede ist, dann denkt man meist an Bischöfe oder Pastoren. Tatsächlich ist das Wort Pastor ja aus dem Lateinischen und heißt wortwörtlich „Hirte“ – eine alle Male sympathischere Bezeichnung für dieses Amt als das Wort Pfarrer, das ziemlich nichtssagend klingt und eigentlich nur eine Gebietszuständigkeit beschreibt, derjenige, der eben für ein bestimmtes Gemeindegebiet, also eine Pfarrei zuständig ist. Im Französischen und Englischen heißen alle Pastoren. Im Deutschen hat das preußische Beamtentum in vielen Regionen Deutschlands hingegen voll durchgeschlagen, jedenfalls begrifflich, wo von Pfarrer die Rede ist. Da wird Gottes Geist und die Seelsorge förmlich verwaltet. Woanders lebt sie hingegen.

Mit dem Hirten verbinden wir auch Jesus Christus. Er ist im Neuen Testament sogar beides – Lamm… und Hirte. Beide Sprachbilder werden für ihn gebraucht. Die Qualifizierung „der gute Hirte“ wird in der Bibel sowohl auf Gott als auch hier und da auf Christus bezogen.

Im besten Sinn sind also die Pastoren und Bischöfe unterwegs in den Fußstapfen Jesu Christi. Aber wir würden ihnen zu viel Ehre antun, wenn wir meinen würden, die Bezeichnung Hirte würde ausschließlich ihnen gelten oder wäre ausschließlich auf den religiösen Raum oder die Seelsorge bezogen.

Nein, so verhält es sich nicht, wie wir dem für den heutigen Sonntag vorgesehenen Predigttext aus dem Prophetenbuch Ezechiel oder Hesekiel, wie es auch hier und da genannt wird, entnehmen können. Da sind offensichtlich mit den Hirten ganz andere Menschen im Blick. Ja, die religiösen Führungskräfte gehören dort auch dazu, aber eben nicht primär oder nur. Ihr werdet es am Text deutlich merken, wer da alles im Blick ist. Und den verlese ich in zwei Teilen. Zunächst der erste Teil:

Ezechiel, Kap. 34, Verse 1-6:

Und des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut, und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder sie sucht.“ Amen

„Ey, voll der krass, der Text“ würden Jugendliche wohl jetzt sagen. Ja, in der Tat krasse Bildsprache und starke Anklagen. Und ohne, dass es im Text explizit gesagt ist, ist klar, wer hier die angesprochenen Hirten sind. Hauptsächlich die politischen Verantwortungsträger, grundsätzlich alle, die eine höhere Verantwortung tragen. Da mögen die religiösen Führungskräfte auch zu gehören, aber im Vordergrund steht da die Klage über die sozial und politisch  Herrschenden – die Machthaber und, die ihrer Verantwortung für ihnen anvertraute Menschenleben offensichtlich nicht nachkommen, sondern nur ihren eigenen Interessen nachgehen, dass es bis in den Himmel stinkt. Jedenfalls stinkt es Gott: „So spricht Gott der Herr: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt.“ Wer hat da nicht gleich die Diktatoren und Autokraten vor Augen, wie sie sich alle zunehmend auch heute gerade in der Jetztzeit breit machen. Aus der Welt wird derzeit ein Selbstbedienungsladen gemacht. Und das Schlimme ist, dass all die Schafe so eingeschüchtert werden oder für dumm verkauft werden, dass sie es sich meist gefallen lassen oder auch selbst applaudieren. Die Wenigsten sind wachsam und widerstehen. Wenn in der Welt bald nur noch Clans, Despoten oder Clowns regieren, dann haben uns die Verhältnisse, wie sie im Buch Ezechiel geschildert werden, wieder eingeholt. Und das würde erweisen, dass es zwar im Verlauf von 2600 Jahren Geschichte irgendwelchen Fortschritt gegeben haben mag und man heute zum Mond fliegen kann oder mit dem Smartphone seine eigene Welt schaffen und dort abtauchen kann, dass aber der Mensch selbst nicht fortgeschritten ist.

Ezechiel tritt als Prophet im Auftrag Gottes auf. Und ich fürchte, wir brauchen heute wieder einen Ezechiel oder gar viele Ezechiels, die von Gottes Geist und Gegenwart zeugen und nicht zum Sprachrohr ihres eigenen Willens, sondern des Willens Gottes werden.

Aber wer war überhaupt Ezechiel?  Ezechiel stammt aus einer Priesterfamilie und wird mit der  babylonischen Belagerung Jerusalems 597 vor Christus zusammen mit anderen Angehörigen der judäischen Oberschicht  nach Babylonien deportiert, also verschleppt, wie es viele auch im 2. Weltkrieg oder nach dem 2. Weltkrieg erlebt haben oder heute noch in Afrika.

Ezechiel wird von Gott ausgewählt, um dieses Unheil anzukünden und erfährt das Desaster am eigenen Leib. Die von ihm übermittelte Botschaft Gottes, dessen Sprachrohr er wird, richtet sich sowohl an die in Juda bzw. Jerusalem Verbliebenen als auch an die mit ihm Verschleppten und im Exil Lebenden. Die ganze bisherige Geschichte Israels wird in diesen Botschaften als „Entheiligung“ dargestellt, als Abweg von den Geboten Gottes, also der göttlichen Weisung zum gelingenden Leben miteinander.

Entheiligung ist also nicht etwa einfach nur, dass uns nichts mehr heilig wäre oder dass behauptet würde, es gäbe keinen Gott oder dass die Kirche keine große Rolle mehr heute spielen würde oder was auch immer, sondern nach den Worten der prophetischen Botschaft von Ezechiel bedeutet Entheiligung als Gegenteil von “Heiligung“ der Welt, dass Menschen ihre Verantwortung für Ihnen anvertrautes Leben nicht mehr wahrnehmen oder sie nur missbrauchen für eigene Zwecke. Um die Welt zu heiligen, muss man also nicht heilig sein, sondern einfach nur Verantwortung für die anvertrauten Lebewesen tragen.

Ja, und das finden wir in allen Lebensbereichen, im religiösen wie im politischen oder sozialen oder wirtschaftlichen oder wo auch immer wir in der Verantwortung für unsere Mitgeschöpfe gefragt sind. Und da finden wir auch heute genügend Negativbeispiele im eigenen Lande, ohne dass wir da in die weite Welt schauen und auf irgendwelche Diktaturen oder Autokratien verweisen müssten oder mit ihnen von uns ablenken könnten.

Bei Nichtverantwortungsübernahme und Verantwortungsmissbrauch fallen uns schnell die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche und der dortige Umgang mit ihnen ein. Aber wir haben gewiss auch vor der eigenen evangelischen Haustüre zu kehren. Aber hier wären wir nur bei den Hirten im engeren religiösen Sinne.

Was wir gerade in Zeiten von Corona erleben, offenbart aber ja mindestens ebenso deutlich die Nicht-Verantwortungsübernahme und den Missbrauch der Verantwortung in den anderen Feldern, wie sie hier von Ezechiel im Auftrage Gottes beim Namen genannt ist: „Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden.“ Das haben wir ja erlebt, dass Abgeordnete des Bundestages mehr  damit beschäftigt waren, wie sie sich mit Masken selbst bereichern können als mit der Frage, wie diese schnellstmöglich und möglichst kostenlos insbesondere in die Hände Erwerbsloser und Bedürftiger kommen.

„Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht“. Menschen sind geschwächt in unserem Lande. Viele sind in den Familien am Rande des Nervenzusammenbruchs und es fällt ihnen die Decke auf den Kopf. Was kommt da? Eine in den Medien zur Schau getragene Kritik an Menschenansammlungen auf Grünstreifen und in Wäldern etc. und die Notbremse mit einer Ausgangsbeschränkung. Das obwohl das Robert Koch Institut und die Virologen sagen, dass 95 Prozent der Corona-Ansteckungen innen geschehen und nicht unter freiem Himmel. Wahre Ablenkungsmanöver. Hauptsache wir als Politiker vermitteln den Eindruck, wir hätten alles im Griff und würden durchgreifen. Denn dann werden wir wieder gewählt. So aber stärkt man nicht das Schwache und auch indem man diejenigen, die ausreichend Corona-Schutzvorkehrungen getroffen haben, nicht ihre Türen öffnen lässt, stärkt man nicht das Schwache, sondern man lässt sie weiterhin das Bauernopfer sein.

„Und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht“. Natürlich gibt es jetzt Impfstoffe und endlich werden sie auch in Umlauf gebracht. Es sind tatsächlich wichtige, sinnvolle Schritte. Aber die große Klage, dass wir zu wenig Personal in den Krankenhäusern haben, ist wohl unüberhörbar und Fakt ist, dass hier schon vor Corona nicht genügend Verantwortung für diesen Bereich wahrgenommen worden ist. Das haben wir zugelassen! Wie soll man Kranke heilen und Verwundete verbinden ohne Personal und das entsprechende Geld dafür? Und wer kümmert sich eigentlich um die ganzen seelischen Wunden? Welche Rezepturen werden da von politischer Seite und von Entscheidungsträgern und Administrationen angeboten?

Und dann schließlich: „Das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht.“ Wir leben in einer Gesellschaft mit viel Verirrten und viel Verlorenen. Ich denke nicht nur an Drogenabhängige und Suchtkranke Jugendliche oder Erwachsene und Menschen mit Kaufsucht. Ich denke auch an die vielen Obdachlosen. Zu viel Verführung als Grundprinzip unserer Wirtschaft und zu wenig geistige Orientierung wird da überall vermittelt. Zu viel Entfesselung des freien Marktes und zu wenig Steuerung im Blick auf ausreichend und finanzierbare Wohnungen. Es hat eben seine Auswirkungen, wenn Gewinne nur immer abgeschöpft, aber nicht in die Gesellschaft und die Menschen reinvestiert werden, wenn die Verantwortung für das Allgemeinwohl außen vor bleibt. In unserer Gemeinde versuchen wir mit der Arche, dem Wohnprojekt für sechs wohnungslose Frauen und Männer dem ein klein wenig entgegen zu steuern. “Ein Tropfen auf den heißen Stein”, würden viele sagen – gewiß, aber wertvoll für die betroffenen Menschen

Und dann die anderen Verirrten und Verlorenen…die den politisch Rechten in die Arme laufen. Wer kümmert sich eigentlich um die? Wer nimmt sich ihrer Fragen, Sorgen und Nöte an? Wer versucht die mal zu verstehen und wirklich Abhilfe zu leisten, wo Abhilfe geleistet werden muss statt sie immer nur an die Wand zu stellen und dort stehen zu lassen? Bei Verirrten und Verlorenen muss man sich schon die Mühe der Suche machen. Ja, man muss sie aufsuchen und Vertrauen aufbauen, sonst bleiben sie Verirrte und Verlorene.

Flötenspiel 1: Sibille Rauscher

Ich lese nun die nachfolgenden Verse 7- 16 aus dem Buch Ezechiel:

“Darum hört, ihr Hirten, des Herrn Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des Herrn Wort! So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. Denn so spricht Gott der Herr: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.  Ich will sie aus den Völkern herausführen und aus den Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und wo immer sie wohnen im Lande.  Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels.  Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr.  Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.“ Amen

Flötenspiel 2: Sibille Rauscher

Das zuletzt gehörte, zweite Flötenspiel hat mit seinem lebhafteren, heiteren, positiven Tenor das aufgenommen, was im Text geschieht bzw. zur Sprache kommt. Eine Konsequenz, eine Wende, die der Prophet ankündigt. Das lässt sich nun abschließend so auf den Punkt bringen. Wo die Hirten weiter ihre Verantwortung nicht wahrnehmen oder missbrauchen, werden sie irgendwann entmachtet. Gott, der gute Hirte tritt selbst auf den Plan. Sein Geist verrichtet das, was sie nicht leisten. Er selbst heilt, schafft Gerechtigkeit und sucht das Verlorene. Er selbst schenkt seiner Herde Geborgenheit und Orientierung, die sie missen.

Für meine Begriffe einer der stärksten, tröstlichsten und hoffnungsvollsten Textpassagen in der Bibel. Denn wir werden darauf verwiesen, dass unser Schicksal nicht in den Händen der Hirten liegt, sondern in den Händen des Höchsten, dass nicht sie die Weltenherrscher sind, auch wenn sie sich selbst dafür halten, sondern Gott es ist. Denn ihre Zeit vergeht und mit Gott bricht eine andere Zeit an.

Wie ungeheuer wohltuend und tröstlich ist dieser Gedanke auch und gerade im Blick auf die Kirche, dass Gott selbst mit seinem Geist die Herrschaft antritt, wenn oder wo gerade sein Name missbraucht wird oder die Herde nicht angemessen geweidet wird.

So hat er Israel aus dem Exil wieder nach Hause geführt. So hat er Christus in die Welt gesandt, als diese verloren schien. So hat er die Kirche reformiert, als sie ihm nicht mehr in angemessener Weise diente und hat seine Schafe gesucht und gesammelt, indem er die frohe Botschaft in ihrer eigenen Sprache zu ihnen brachte. Es ist Gottes Geist, der da am Werke ist und der nicht loslässt von uns und uns den schlechten Hirten nicht für immer ausgeliefert sein lässt.

Ich kenne so viele Menschen – mich eingeschlossen, die von ihrer Kirche oft enttäuscht wurden, ja , Schlimmes mit ihr erlebt haben und am Glauben eigentlich verzweifeln müssten. Martin Luther sagt: „Es menschelt in der Kirche“. Und genau das ist der Punkt. Nur Gott selbst kann das Korrektiv sein. Er ist es auch tatsächlich in unserer Kirche und in unserer Welt. Es ist gut, dass wir ihn als Hirten haben, denn es hilft uns, das Menscheln zu ertragen und Verantwortung der Hirten in der Kirche und in der Welt einzuklagen und so schenkt der große gute Hirte uns selbst einen langen Atem im Vertrauen. Ja, er schenkt uns Glauben – Glauben gegen alle Widernisse und Hoffnung auf seine verändernde Gegenwart. Amen

Lied 302, 1,2,4,6 u. 7: „Du, meine Seele, singe!“