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Gedanken zur Tageslosung für Donnerstag, den 23.04.2020

Ich habe dich bereitet, dass du mein Knecht seist. Israel, ich vergesse dich nicht!
Jesaja 44,21

Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat.
Hebräer 10,35

Viele stören sich an dem Fakt, dass das Volk Israel nach biblischer Überlieferung das erwählte Volk Gottes ist. Sicher ist durch Christus die ganze Völkerwelt hinzugekommen. Aber erstens war diese auch schon im Alten Testament immer mit im Blick gewesen. Und zweitens verbindet sich mit der Sendung Christi keineswegs, dass die besondere Erwählung Israels damit einfach aufgehoben, ja, zurückgenommen wäre. Denn genau das sagt ja der Vers aus dem Jesajabuch.  Gott steht in Treue zu seinem Volk. Er vergisst es nicht. Mag sein, dass wir das gerne vergessen und verdrängen möchten, was dem Volk Israel im Verlauf der Christentumsgeschichte mit seinem traurigen Höhepunkt im Holocaust mündend angetan worden ist. Gott vergisst sein Volk nicht. Wer als Jude im KZ eingesessen hat, dem dürfte das allerdings zur Frage geworden sein: Hat Gott mich vergessen?

Erwählung ist auf das Volk Israel und das Judentum bezogen bis jetzt geschichtlich gesehen wahrlich kein Privileg gewesen, sondern nicht selten wohl eher eine Bürde, eine Last. Die Erwählung meint in der Bibel auch keine Bevorzugung im Sinne, dass Gott sich ausschließlich diesem Volk zugewendet hätte oder dass die Angehörigen dieses Volkes eine Eigenschaft besäßen, weshalb sie Gott anderen Völkern bevorzugen würde, sondern die Erwählung des Volkes Israel meint in der Bibel immer Beauftragung. Sie haben eine besondere Aufgabe. Sie sind zu dem besonderen Dienst verpflichtet, Gott zu ehren durch die Einhaltung der Gebote so zu einem Segen für die Völker zu werden. Das war und ist die Aufgabe Israels. Und das ist in der Tat eine Last, eine Herausforderung und kein Privileg, ohnehin nicht, wenn man die Leidensgeschichte dieses Volkes bedenkt. Wie kommt es, dass der Antisemitismus neuerdings wieder stärker zum Vorschein kommt? Sicher mögen da die ein oder anderen politischen Hintergründe eine Rolle spielen.

Eine ganz erhebliche Rolle spielt dabei aber der Neidfaktor. Juden und Christen sind ja wie Geschwister desselben Vaters. Neidisch haben die Christen seit eh und je darauf geschaut, was ihre älteren Brüder, die Juden, vom Herrn an Zuwendung empfangen haben. Wir kennen das, wie das unter Geschwistern ist. Aus Neid hat damals Kain seinen Bruder Abel erschlagen. Er nahm an, dass Abel bei Gott geliebter wäre als er selbst. In der Bibel wird zu Beginn der Menschheitsgeschichte, noch bevor es Juden oder Christen gab, dieser Brudermord erzählt. Ein Schema, das sich wiederholt hat. Aus Neid haben die Christen die Juden erschlagen , verfolgt, vergast, versucht sie auszulöschen. Und doch sind sie da geblieben. Ein Rest von ihnen hat überlebt, wurde gerettet, wurde von Gott eben nicht vergessen. Sie sind damit wie ein lebendiges Mahnmal unseres schlechten Gewissens geworden und genau das führt nicht etwa zur Aussöhnung , wie man es sich wünschen würde, sondern zu umso größerer Verdrängung: „Brudermord – das waren wir nicht. Und überhaupt: Die glauben wohl, die sind was Besseres!  Warum soll Gott die erwählt haben?“ usw. usw. In derselben Weise hatte Kain reagiert, nachdem er von Gott zur Rede gestellt wurde, wo denn sein Bruder sei. Da antwortet er: „Soll ich etwa meines Bruders Hüter sein?“ – also auch mit einem Wegschieben der Verantwortung und Verdrängung. Wir wollen die Schuld loswerden und sie gerne anderen in die Schuhe schieben und sei es den Opfern selbst.

Wie segensreich wäre es hingegen, wenn wir als Christen Verantwortung übernähmen, und zwar in doppelter Hinsicht und sagen würden: „Ja, das haben wir getan, dass wir dieses Volk fast völlig ausgelöscht haben. Wir können nur um Vergebung bitten. Aber wir vertrauen darauf, dass wir in Gottes Liebe mit ihm  in der gemeinsamen Verantwortung für diese Welt und der gemeinsamen Aufgabe verbunden bleiben, denn wenn wir ernst nehmen, dass wir beide Erwählte sind –  das Volk Israel wie auch wir als hinzu gekommene Völkerwelt -, dann ist Erwählung kein Privileg, sondern die Aufgabe, die Welt Gottes und das Zusammenleben auf der Erde im Sinne der Gebote segensreich zu gestalten. Und je mehr wir uns zu diesem Gott in unserer Lebenspraxis bekennen, desto mehr werden wir das als große Herausforderung erleben – und manchmal durchaus auch Anfeindungen und Prüfungen, so wie es auch das Volk Israel oder einzelne Juden in ihrem eigenen Leben erfahren haben. Da sind wir dann in der Tat in unserem Vertrauen gefragt – gefragt, einen langen Atem zu bewahren und von Gott nicht abzulassen – so wie es im Hebräerbrief heißt: „Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat“. Ich wünsche uns allen, dass wir trotz aller Anfechtungen, die wir erleben mögen, darauf vertrauen können, dass wir mit dem Volk Israel und mit Gott zu einem guten Ziel unterwegs sind. (Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel)