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Predigt am 10.11.2024 Reich Gottes? Was soll das denn sein?

(gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Auferstehungskirche und der Versöhnungskirche)

Die Gnade und der Friede Gottes  und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen!

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

manchmal sind theologische Begrifflichkeiten harte Nüsse – schwer zugänglich, schwer zu verstehen. Und wieder andere wirken abgenutzt und schleppen den Staub vergangener Jahrhunderte mit sich. Einer der wohl am häufigsten verwendeten, aber zugleich schillerndsten theologischen Begriffe ist „Das Reich Gottes“. Wobei schon direkt gesagt werden kann, dass das immerhin ein theologischer Begriff ist, der uns so schon ungeheuer oft in der Bibel begegnet. Das trifft auf viele andere theologische Begrifflichkeiten keineswegs zu und ist vielleicht auch ein Kriterium, warum man gerade diesen gegenüber kritisch begegnen sollte. Sie haben nämlich oft wenig Lebensbezug, etwa die sogenannte heilige Dreifaltigkeit oder auch Trinität genannt.

Das Reich Gottes begegnet als Begriff wie gesagt hingegen unzählige Male in der Bibel und spielt sowohl im Reden wie auch im Wirken Jesu eine große Rolle. Heute hören wir aber von diesem „Reich Gottes“ in der sonntäglichen Verkündigung der Kirchen kaum noch, was eine gewisse Widersprüchlichkeit darstellt zwischen dem, wie es bei Jesus am Anfang war und dem, was die spätere Kirche daraus gemacht oder wie sie sich dazu verhalten hat. Und es wäre ja nicht die erste Widersprüchlichkeit.

Die Einzigen, die heute Reden von sich machen, indem sie heute vom Reich Gottes reden, sind die Zeugen Jehovas. Bei ihnen spielt der Begriff eine große Rolle, allerdings im Zusammenhang einer eher bedrohlichen Verwendung dieses Begriffs in ihrer Verkündigung.

Sie verwenden diesen Begriff fast ausschließlich im Zusammenhang ihrer Rede vom Weltuntergang. Die Welt, wie wir sie kennen, würde untergehen bevor Gott dann sein Reich herbeiführen würde. Das ist quasi ein richtiges Angstszenario. Sie verbreiten damit Angst und Schrecken, als wenn wir das nicht schon zur Genüge erleben würden. Und für viele ist aber gerade das durchaus immer wieder ansprechend, weil erlebte Kriege und Krisenzeiten tatsächlich so Angst einflößend sind, dass man das gut als Anbruch der Endzeit deuten bzw. verkaufen kann.

In der Bibel finden sich tatsächlich Anknüpfungspunkte für solche Visionen eines Reiches Gottes, das erst kommt, wenn alles Gegenwärtige vergangen ist. Aber es sind gleichwohl Bilder, die für eine Konkurrenz zwischen der Herrschaft der Menschen und der Herrschaft Gottes stehen und deshalb sind diese Bilder mit Vorsicht zu genießen und auch nicht unbedingt als Aussagen, die als Aussagen über zeitliche Abläufe zu verstehen sind: also erst der Untergang der Welt und dann das Werden von Gottes Reich.

Freilich machen die Zeugen Jehovas Menschen gefügig, indem sie ihnen Angst vor dem Untergang der Welt machen, dem dann die große Gnade Gottes folgt, auf die man sich durch ein Gott gemäßes Leben jetzt schon vorbereiten müsse, wenn man denn in die Gunst von Gottes Gnade kommen möchte. Die Kirche hat das im Mittelalter ganz ähnlich betrieben, indem sie das „Reich Gottes“ erst nach diesem Leben verortet hat. Und wenn man nach dem Tod da landen wolle und nicht in Höllenqualen, müsse man dieses und jenes tun, 500 Vater unser beten oder 500 Liegestützen machen oder 500 Taler für einen Ablassbrief entrichten, durch die die damalige Kirche den Bau des Doms in Rom finanziert hat. Also auch das damals das Geschäft, das Spiel mit der Angst, um Menschen empfänglich und gefügig zu machen.

Jesus hat Menschen keine Angst gemacht, um sie gefügig zu machen. Bei ihm hatte die Rede vom Reich Gottes vielmehr eine Hoffnungsdimension genauso wie im Alten Testament.

Im Alten und Neuen Testament begegnet uns der Begriff, wie gesagt sehr häufig. Reich Gottes begegnet dort aber eben gerade nicht unbedingt als etwas, was erst irgendwann mal kommt. Allein im Vater Unser ist das ja genau gegenteilig. Es ist das Gebet, was uns Jesus gelehrt hat. Da heißt es eindeutig: „Dein Reich komme“ – es soll sich also jetzt und hier vollziehen und nicht erst irgendwann jenseits aller Zeiten oder in einer anderen Welt. Nein, der Diesseitsbezug ist hier klar ausgesprochen. Und er wird von Jesus mit den anderen Dingen gleichgesetzt. Alles sagt ein und dasselbe aus: „Geheiligt werde dein Name“ und „Dein Wille geschehe“ – so wird umschrieben, was das Kommen des Reiches Gottes bedeutet, wie es sich vollzieht. Es kommt überall da, wo Gottes Wille geschieht und wo sein Name von uns geheiligt wird, wo wir also seinem Willen folgen und mit der Welt und den Menschen und Lebewesen entsprechend achtsam und respektvoll umgehen und die Welt dementsprechend gestalten.

Ich glaube, die meisten Menschen wissen gar nicht, was sie da beten, wenn sie das Vater Unser beten. Wir beten, dass sich Gottes Reich durchsetzt, dass es greifbare Wirklichkeit wird und nicht etwa aus unserem Sichtfeld auf den Sankt Nimmerleinstag verschwindet.

Bevor ich gleich zu dem eigentlichen Predigttext des heutigen Sonntags komme, scheint mir noch eine Information zum Begrifflichen wichtig zu sein. In der Bibel steht da, wo wir im Deutschen mit „Reich Gottes“ übersetzen, wortwörtlich nicht Reich Gottes, sondern „die Königsherrschaft Gottes“ oder an anderer Stelle wechselweise auch „Das Reich der Himmel“ oder „Himmelreich“. Letzteres macht auch nachvollziehbar, wie man auf die Idee kam, dass uns das Reich Gottes erst nach dem Tode begegnen würde. Eben, weil wir die Vorstellung oder die Hoffnung haben, dass wir nach dem Tode in den Himmel kommen. Aber auch das ist eben nur eine symbolische Aussage. Gemeint ist: dort hinkommen, wo Gott gegenwärtig ist, wo Gott das Sagen hat und eben nicht in der Verlorenheit des Nichts landen. Aber nun zu dem aus meiner Sicht höchst aussagekräftigen spannenden Predigttext, der die Grundlage für die heutige Predigt ist: Im Lukasevangelium, Kap. 17, Verse 20-21 wird von einer Begegnung zwischen Jesus und einer Gruppe von Pharisäern erzählt. Da heißt es „Als Jesus von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen. Man wird auch nicht sagen: Siehe ´, hier! Oder : Siehe da!. Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter Euch.“ Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus, zunächst einmal: Das ist nichts Ungewöhnliches. So waren und sind jüdische Lehrende und Lernende immer miteinander im Gespräch, in Frage und Antwort und Gegenfrage. Hier geht es nicht um irgendwelche Provokationen von Seiten der Gruppe der Pharisäer. Ihre Frage zeigt vielmehr ihren Wunsch nach tiefem Verstehen. Was ist dieses Reich Gottes – die Königsherrschaft Gottes, das Himmelreich. Wo ist das zu finden? Wo und wie begegnet es uns?

Jesus steht Rede und Antwort.

Aber noch mal kurz zu uns: Wenn wir das Wort „Himmel“ oder „Himmelreich“ hören, dann denken wir an den sichtbaren Himmel, der vor Augen ist. Und nach kindlicher Vorstellung ist Gott da oben irgendwo im Himmel. Manche stellen sich auch vor, dass er ein Bad in den Wolken nimmt. Ja, und da wäre dann auch konsequent zu Ende gedacht sein Himmelreich, sein Königreich.

Wenn wir Engländer wären, würde es uns aber nicht unbedingt so ergehen. Die Engländer unterschieden in ihrer Sprache den sichtbaren Himmel, den man vor Augen hat. Der heißt „sky“, so ja auch ein gleichnamiger bekannter Fernsehsender, der vor allem Sport über Satellit überträgt. Und das andere nicht unmittelbar sichtbare Himmelreich, wo Gott herrscht, also die Königsherrschaft Gottes oder das Himmelreich ist, wird als „heaven“ bezeichnet.

Da sist eine ganz elementare, wohltuende Unterscheidung, die naiven Missverständnissen vorbeugt, als sie Gott wirklich in der Wolke zu finden etc.

Nein, seine Königsherrschaft, sein Himmelreich scheint andere Orte oder andere Sphären zu haben. In jedem Fall ist es ein bildhafter Ausdruck. Aber was will er besagen?

Was sagt Jesus?

Die Pharisäer, die mit Jesus im Gespräch sind, fragen: „Wann kommt das Reich Gottes?“. Sie könnten ebenso fragen: „Wo kommt das Reich Gottes?“ Im Alten Testament bezeichnet das Reich Gottes ganz allgemein und grundsätzlich den Anbruch von Gottes Herrschaft, eigentlich den Anbruch von Gottes Herrschaft, die mit dem Kommen des Messias beginnt oder in Erscheinung tritt.

Jesus lässt sich hier allerdings nicht dazu verleiten, sich als Messias zu bezeichnen, noch scheint ihm das überhaupt irgendwie von Bedeutung zu sein.

Er nimmt ihr Fragen vielmehr als ein Fragen ernst, das auch wir unabhängig von der Frage wer Jesus selbst war, in uns tragen dürften im Angesicht der von Leid, Krieg und Gewalt geprägten, ja geschüttelten Welt. So erleben wir es jedenfalls augenblicklich und so kann es die Menschheit immer wieder erleben. Wo oder wann kommt denn da Gottes Reich? Das ist die normalste Frage der Welt, wenn wir die Diskrepanz erleben zwischen dem, wie die Welt ist und dem, wie sie von Gott aus gemeint und gewollt ist.

In anderen Texten der Bibel heißt es bei Paulus etwa: Es ist schon da (es hat mit Christus angefangen) und steht zugleich noch aus. Schwer zu verstehen – dieses „Es ist schon da und steht zugleich noch aus.“ Paulus meint das gewiss nicht so, aber man könnte das als eine dauerhafte Vertröstung missverstehen.

Ein meiner Professoren der Kirchlichen Hochschule in Montpellier, bei dem ich studiert habe, hat diese dauerhafte Vertröstung – dieses schon begonnen, aber noch nicht ganz als Karottentheologie bezeichnet. So von Gott zu reden, so vom Kommen von Gottes Reich zu reden, sei so wie wenn man einem Hasen oder Karnickel, eine Karotte hinhält, aber sobald der Hase oder das Karnickel näher kommt, dann doch wegzieht. So mögen sich manche in ihrem Glauben erleben. Entweder scheinen wir dem Reich Gottes hinterherzuhinken oder das gibt es gar nicht in Wirklichkeit – wenig beglückend, wenig erfüllend, wenig tröstlich, wenig gehaltvoll, wenig nährreich, wenig hoffnungsvoll das Ganze. Die Hoffnung muss vielmehr Hand und Fuß bekommen wie bei Jesus. Sie braucht Bodenhaftung. Und nur da wächst auch Vertrauen. Auf einen Gott, der mir immer wieder die Mohrrübe wegziehen würde, könnte ich gern verzichten. Das wäre keine Geduldsprobe, sondern wahrlich Sadismus. Ich wäre ich ganz schön sauer. Wenn also alles nur illusionäres Blabla wäre und nichts dahinter, kann mir Gott mit seinem Reich gestohlen bleiben oder verbannt werden in das Reich der rosaroten Brillenträger. Was soll ich mit solch einem Gott oder so einer Kirche, die solch einen Gott verkündet oder solche Hoffnung, die nicht greifbar ist. Das Reden von Gottes Reich wäre eine hole Floskel, ähnlich wie die Botschaft „Jesus liebt dich“ eine hole Floskel, lediglich in „U-Bahnen“ und Bussen lesbar bleibt, wenn seine Liebe nicht erfahrbar wird, sondern irgendwo im Himmel Welten oder Weltzeiten entfernt bleibt. Ich würde nichts vermissen an Gottes Reich oder der Liebe Jesu, wenn sie meine Welt nicht auch verändern würden, mich, mein Gegenüber, unser Miteinander.

Und so komme ich nun endlich auf die Antwort Jesu im Predigttext zu sprechen.

Jesus antwortete den Pharisäern auf ihre Frage: „Wann kommt das Reich Gottes?“ und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen. Man wird auch nicht sagen: Siehe, hier! Oder : Siehe da!. Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter Euch.“

Was wollen die Worte Jesu sagen? Zunächst einmal: Das Reich Gottes ist nicht äußerlich daran ablesbar, dass zuvor ein großer Knall durch die Welt geht oder niemand mehr Trump wählt oder alle ein dickes E-Auto fahren, das die Umwelt rein gar nichts kostet. Mit der Rede von Reich Gottes werden weder im Alten Testament noch bei Jesus gewaltvolle Umbrüche noch paradiesische Zustände noch eine äußerlich ganz andere Welt versprochen.

Im Talmud, der jüdischen mündlichen Überlieferungen heißt es deshalb auch: Wenn das Reich Gottes mit dem Messias kommt, wird er nicht mit einem Mal die ganze Welt vernichten oder mit einem riesigen Sturm daher kommen, um sie zu verändern, sondern er wird hier einen Stein zurecht rücken und dort einen Stein zurecht rücken, damit es sich zum Guten fügt. Wer also Allmachts- oder Großaufräumfantasien oder Strafgerichtsfantasien hegt oder sich das von Gott erhofft, ist beim Kommen von Gottes Reich bei der falschen Adresse.

Gottes Liebe und Barmherzigkeit geht viel subtiler vor, um seinen Willen durchzusetzen. Ja, beim Reich Gottes geht es tatsächlich um die Herrschaft Gottes und nicht die der Menschen. Es geht tatsächlich darum, dass er sich hier und da dann auch der Herrschaft der Menschen entgegenstellt. Aber er macht es nicht auf die menschliche Art, wie wir es mit Waffen wie in der Ukraine oder andernorts tun und uns weiter versündigen würden. Er macht es vielmehr auf seine göttliche Art.

Wenn ich den Kindern im Schulgottesdienst mit einem Satz erklären will, was das Reich Gottes ist, sage ich meist: „Gottes Reich ist da, wo Gottes Liebe ist“. Oder: „Gottes Reich ist da, wo Gottes Liebe herrscht“. Und wenn ich sagen will, was Messias bedeutet dann sage ich meist: Jesus ist nicht irgendein König, sondern der König der Liebe. Oder anders ausgedrückt: Bei den Menschen regiert die Liebe zur Herrschaft, bei Gott regiert vielmehr die Herrschaft der Liebe.

Und so in etwa formuliert auch Jesus im Blick auf das Reich Gottes. Er formuliert einen Zuspruch und einen Anspruch. Er sagt: „Denn sehet, das Reich Gottes ist mitten unter Euch.“ Damit meint er freilich nicht, dass wir das Reich Gottes herbeizwingen könnten, wie es etwa die Sittenpolizei islamistischer Staaten meint tun zu können oder auch alle Ideologien jedweder Art, die meinen, sie könnten per Anordnung und Gesetz paradiesische Zustände in dieser Welt schaffen. Was er vielmehr meint ist: Gott ist mit seiner Liebe unter seinen Jüngern schon längst am Werke. Das ist also zuallererst eine spirituelle Aussage Jesu. Wir sollen auf die Wirkkraft von Gottes Geist vertrauen und nicht einfach allein auf unsere menschlichen Möglichkeiten.

Da, wo wir auf diese Wirkkraft vertrauen, entfaltet sich Gottes Liebe. Sie schafft Realitäten, wo Gottes Reich für uns greifbar wird. Sie stiftet uns zum Teilen an, so dass Menschen Hoffnung bekommen, sie stiftet uns zur Solidarität an, so, dass Menschen aus ihrer Einsamkeit herauskommen. Sie stiftet zum Frieden an, so dass Menschen nicht in Hass und Misstrauen, Gewalt und Unfriede untergehen. Überall da ist Gottes Reich schon längst da, schon längst am Werk. Es ist so wie es eine chassidische Geschichte erzählt. Eine Geschichte aus dem Bereich der jüdischen Frömmigkeitsbewegung des 17. Jahrhunderts:

„Wie erkennt man, dass ein neuer Morgen kommt, dass eine neue Welt anbricht“ wurde ein Rabbi von seinem Schüler gefragt. Und er antwortete: Dass ein neuer Tag anbricht, ein neuer Morgen, eine neue Welt erkennst Du daran, dass Du im langsam aufkommenden Licht, die Umrisse deines Nächsten erkennst. Wenn Du dein Gegenüber siehst, dann beginnt der neue Morgen, der neue Tag, die neue Welt. Und ich ergänze im Sinne Jesu: Da beginnt das Reich Gottes. Amen