You are currently viewing Predigt 20.08.2022 – die Entdeckung des bedingungslos liebenden Gottes
copyright: Getty Images

Predigt 20.08.2022 – die Entdeckung des bedingungslos liebenden Gottes

(gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Auferstehungskirche)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

aus dem für den heutigen Sonntag vorgesehenen Predigtext möchte ich gern nur einen einzigen Vers herausgreifen, der für Martin Luther einer der wichtigsten Verse der Bibel wurde. Denn er hat in diesem Bibelvers einen ganz anderen Gott entdeckt als wie er ihm zuvor vertraut war und durch die damalige Kirche vermittelt wurde.

Martin Luther war ja bekanntlich gewissermaßen der Gründervater der Evangelischen Kirche im 16. Jahrhundert. Viele wissen, dass er gegen den Ablasshandel gepredigt hatte und dass seine 95 Thesen, die er dazu an dem Eingangsportal der Schloßkirche in Wittenberg aufgehängt und zur Diskussion gestellt hat, der Auslöser für die Reformation war, die damals nicht nur die Kirche völlig verwandelt hatte und eine evangelische Kirche entstehen ließ, sondern auch die ganze Gesellschaft veränderte und wesentliche Impulse für freiheitliche Gesellschaftsordnungen gab.

Woher kommt dieses Moment der Freiheit oder der Befreiung? Diese Frage hat mich immer interessiert. Und was war die biblische Grundlage dafür?

Was führte dazu, dass dieser kleine unbedeutende Mönch aus Wittenberg, wie Martin Luther von seinen Gegnern – allen voran dem Papst – gerne verächtlich tituliert wurde, auf einmal gegen den Ablasshandel predigte und zu Felde zog, der sich in der Kirche schon lange als Normalität eingebürgert hatte.

Der Ablasshandel ist etwas, was uns heute nicht mehr beschäftigt. Aber wir werden noch sehen, warum der Bibelvers, der für Martin Luther so bedeutsam wurde im Zusammenhang mit dem Streit um den Ablasshandel, auch für uns heute aus ganz anderen Gründen ebenso eine besondere Bedeutung, ja sogar eine große Brisanz hat.

Der Vers befindet sich im Galaterbrief Kap. 2. Da heißt es in Vers 16: „Da wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch das Tun der Werke, die vom Gesetz her geboten sind, wird kein Mensch gerecht vor Gott.“

Zum grundsätzlichen Verstehen des inhaltlichen Zugangs von Martin Luther zu dem Bibelvers, ist zunächst festzuhalten, dass er unter Werke des Gesetzes alle religiösen Pflichtübungen und guten Werke versteht, die ein Mensch in Treue zu Gott in seinem Leben verrichtet. Das an sich hält er weder für negativ noch will er die Menschen dazu bringen, sich nicht mehr an die Gesetze bzw. Gebote Gottes zu halten oder nicht mehr die Nächstenliebe zu praktizieren. Aber er macht in und mit diesem Vers eine besondere Entdeckung.

Dazu muss man zunächst ein Wort zur damaligen Kirchenpraxis und Kirchenlehre sagen. Längst hatte die Bibel selbst kaum noch eine Rolle gespielt. Sie war in Sprachen geschrieben, die nur die Kleriker verstanden und die Kirchenleitungen vertanden sich als Sachwalter des Erbes Christi. Sie gaben über die Gebote der Bibel hinaus die unterschiedlichsten Vorschriften heraus, nach denen die Menschen zu leben hatten und an die sie sich auch in Glaubensdingen halten sollten.

Zu diesen Vorschriften gehörte auch, dass genau beschrieben wurde, was man als Zeichen der Buße, also der Umkehr zu Gott, tun müsse, um letztlich die Seligkeit zu erlangen bzw. einen Platz im Himmel nach dem Tod. Und der war vielen sehr wichtig, denn damals war die Jenseitshoffnung sehr ausgeprägt, wo das Diesseits hier oft so schrecklich erlebt wurde mit Pest, Gewalt, Krieg und äußerst kurzer Lebenserwartung – ganz anders als heute.

Manchmal bestand die empfohlene bzw. verordnete Buße darin, dass man ein paar “Vater Unser” beten sollte oder einige “Ave Maria,” wie das ja manchmal bei katholischen Beichtstühlen noch heute zu hören ist. Damit verband sich die Vorstellung der Wiedergutmachung. Man könne also einfach für die ein oder andere begangene Sünde etwas Gutes tun und damit wäre dann wieder alles im Lot mit Gott und man muss nach dem Tod nicht etwa Höllenqualen leiden, wie das die Kirche gerne ausmalte und mit den Ängsten der Menschen regelrecht spielte. Es ist grundsätzlich der Gedanke, man können die Vergebung und die Gnade Gottes, ja seine Zuwendung durch das eigene Tun, durch das eigene Werk erwirken.

Nun kam durch ganz eigene ökonomische Interessen der Kirche und einiger Kurfürsten noch hinzu, dass die Kirche lehrte und praktizierte, dass zu diesen guten Werken auch die finanzielle Unterstützung des Baus des Petersdoms in Rom gehören könne, ja müsse. Man konnte gegen die Abgabe einer bestimmten Summe, die in der Höhe variierte je nach Sündencharakter bzw. des Ausmasses des Vergehens gegen göttliche Gebote und Kirchengesetze, die Absolution erhalten. Mit anderen Worten: Man konnte sich freikaufen von den Sünden bzw. von der Verantwortung und Schuld und bekam dies in einem Dokument, dem sogenannten Ablassbrief offiziell bescheinigt. Das konnten sich dann diejenigen beruhigend über das Bett hängen, die diese Summen aufbrachten und tatsächlich davon ausgingen, dass man sich den Platz im Himmelreich und Gottes Gnade, Liebe, Zuwendung erkaufen kann. Die Kirche lehrte also aus ganz eigennützigen Motiven heraus die Käuflichkeit Gottes. Man könne mit Geld seinen Zorn mildern, denn die Vorstellung eines permanent strafenden Gottes war sehr ausgeprägt.

Das waren Dinge, die Luther, der ein frommer Mensch war, mehr und mehr übel aufstießen und von seiner Kirche entfremdeten. Aber der strafende Gott, vor dem man Angst haben muss und der sich nur gnädig stimmen lässt durch eine wohlgefällige Buße mit dem Ziel nach diesem Leben nicht verworfen und verloren zu sein, hatte auch Luther über viele Jahre selbst verinnerlicht. Und er hat sich immer wieder gefragt, wie Gott gnädig gestimmt werden könne. Selbst seine Entscheidung Mönch zu werden, Theologie zu studieren und Priester zu werden, hatte den Hintergrund der Angst vor einem ungnädigen, strafenden Gott. Denn als er in ein Gewitter geriet, in dem er befürchtete umzukommen, legte er das Gelübde ab, dass er Gott dienen wolle, wenn Gott ihn verschonen würde.

In diesem Vers nun machte Luther so wie dann auch in anderen Bibelpassagen seine entscheidene Entdeckung, die sein Gottesbild verändern und die Welt revolutionieren sollte, vorerst die Kirche und dann schließlich auch die Gesellschaft.

Ich lese ihn noch mal: „Da wir wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum Glauben an Jesus Christus gekommen, damit wir gerecht werden durch den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn durch das Tun der Werke, die vom Gesetz her geboten sind, wird kein Mensch gerecht vor Gott.“

Hier werden zwei Dinge gegenübergestellt: Das Tun irgendwelcher guten Werke oder religiöser Pflichterfüllungen oder Auflagen, also die eigenen Leistungen, mit denen man erreichen möchte, dass man vor Gott gerecht oder gerechtfertigt erscheint auf der einen Seite und Glauben auf der anderen Seite. Glauben als pures Vertrauen auf die große Gnade, die große Liebe Gottes, in der man sich als sündiger Mensch trotz allem gehalten und bewahrt fühlen darf. Dieses Vertauen allein ist entscheidend, so schrieb damals Paulus an die Christen in Galatien, um in den Zustand der Glückseligkeit zu erreichen.

Und da fiel es Luther wie Schuppen von den Augen. Denn das war ein anderer Gott als wie er ihn kannte, der er selbst immer mit der permanenten Unruhe beschäftigt war, wie er Gott gnädig stimmen könnte. Die Furcht vor einem Angst einflößenden, fordernden und strafenden Gott war für Luther auf einmal einem Gefühl des Geborgen- und Gehaltenseins in dieser Liebe Gottes gewichen, die in Christus für uns Menschen greifbar wird. Hier ist für Luther die Angst dem Vertrauen gewichen. Aber nicht nur das. Luther hat damit auch Gottes Souveränität wieder entdeckt. Es ist nun für ihn nicht mehr die Kirchenleitung, die festlegt wie man die Seligkeit hier erreicht oder wie man die Seligkeit im Himmel erreicht, sondern Gott selbst bekommt das Zepter zurück in seine Hand. Und die große Einladung heißt: Glauben – Vertrauen.

Nicht die menschlichen Leistungen zählen. Wir können uns nicht selbst gerecht machen. Das wäre ziemlich selbstgerecht. Wir können und sollen hingegen nur auf Gottes Liebe vertrauen. Das ist befreiend, denn dann hängt nicht alles nur an mir und an dem, was ich leisten kann und schon mal gar nicht nur an meinem Geldvermögen.

Wir merken welche Sprengkraft diese biblische Entdeckung des ganz anderen Gottes als wie ihn die damlige Kirche verkündete im Leben von Luther und all derer, die sich ihm angeschlossen hatten, bekommen hatte und wie das von kirchlicher und wenig später auch von so manch welticherBevormundung befreien konnte.

Aber was kann dieser für die Reformation so zentrale Bibelvers für uns heute noch bedeuten?

Für mich hat damals in den Siebzigern als ich Teenager war, der Vers eine ähnlich befreiende Wirkung bekommen wie für Martin Luther und auch mein Gottesverhältnis entscheidend geprägt. Ich und meine Geschwister litten unter einem Vater, dem wir nie genug sein konnten, der immer zu gute Leistungen an der Schule erwartet hatte – ebenso wie die Schule selbst – und mit uns sehr zornig ins Gericht ging und mit Schweigen und Liebesentzug reagierte, wenn wir seine Erwartungen nicht erfüllten und schlechte oder nur mittelmäßige Noten nach Hause brachten. Ich entdeckte: der himmlische Vater ist anders als dein irdischer Vater: Er hat dich auch lieb, wenn Du versagst und für ihn musst du nicht zuerst Leistungen vollbringen, bevor er dich liebt. Seine Liebe geht all deinem Tun voraus. Er nimmt dich bedingungslos an. Das war für mich gerade als Teenager eine absolut wertvolle Entdeckung und ist bis heute bestimmend in meinem Verhältnis zu Gott und Christus.

Und so ist dieser Vers für mich auch der Vers geworden, an dem sich alle Menschenwürde festmacht: Wir sind, weil wir von Gott Geliebte sind und nicht, weil wir etwas leisten oder für irgendjemanden oder irgendetwas nützlich wären. Und Ihr merkt nun auch, liebe Schwestern und Brüder in Christus, warum gerade das heute von besonderer Bedeutung und Brisanz ist. Denn da denke ich nicht nur an mich als Teenager und all die vielen Schüler und Schülerinnen, die heute den Leistungsdruck und die permanente Verschulung und Versklavung ihrer Freizeit durch die Schule ertragen müssen, sondern auch an ganz andere Menschengruppen und Herausforderungen unserer Gesellschaft.

Heute, wo das Nützlichkeitsdenken und das Profitdenken so dominieren und es allein auf Leistung und Gegenleistung ankommt, ist ein Umdenken dringend erforderlich. Der Mensch hat seine Würde nicht durch diese Dinge, sondern weil er ein geliebtes Geschöpf Gottes ist. Und unser Gott ist anders als das, was wir heute vergöttern. Die Nazis haben das von ihnen als „unwertes“ Leben eingestufte Leben von Behinderten und psychisch Kranken einfach ausgelöscht, einfach ermordet. Davon wollen wir uns  in der heutigen Gesellschaft immer gerne distanzieren. Aber wir sind trotzdem so weit, dass in Großbritannien bestimmte Operationen oder medizinische Maßnahmen bei älteren Menschen gar nicht mehr durchgeführt werden, gar nicht mehr von den Krankenkassen finanziert werden. So viel ist heute ein Leben wert. Alte Menschen, Demenzerkrankte, Menschen mit Krankheiten und Behinderungen sind unsere große Herausforderungen. Zeig mir, wie Du mit diesen Menschengruppen umgehst und ich sage Dir, in was für einer Gesellschaft Du lebst. Das Niveau einer Gesellschaft erkennt man daran, sie sie mit diesen Menschengruppen umgeht und auch mit ihren Schulkindern, die sich nicht wehren können.

So hat dieser Bibelvers, dass wir nicht in unseren Leistungen aufgehen, sondern in Gottes Liebe gehalten und geliebt bleiben, seine große Bedeutung nicht eingebüßt, auch wenn das heute ein ganz anderer Kontext ist als der zur Zeit Martin Luthers. Als Evangelische, die von dieser Bibelentdeckung her kommen, sollten wir dem besondere Aufmerksamkeit schenken. Da können unsere theologischen Kerngedanken als Evangelische Kirche heute noch fruchbar gemacht werden und wichtige Korrektur- und Orientierungshilfe für unser menschliches Zusammenleben sein. Amen