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Predigt zum 3. Sonntag nach Trinitatis 28.06.2020

Predigt zu Micha 7,18-20
Liebe Gemeinde,
endlich Ferien, ein Urlaub gebucht, ein bisschen rauskommen aus dem Corona-Trott – und dann das: Die Fleischfabrik der Stadt kommt in die Schlagzeilen, die Anzahl erkrankter steigt rasant, das Virus ist wieder da und näher als zuvor, der bevorstehende lock down wird angesagt, schon wieder Kinder, Job und Quarantäne unter einen Hut bringen, und was ist jetzt eigentlich mit dem Urlaub?
Alles auf Stopp – und nur weil da rumänische Wanderarbeiter zu nah aufeinander rumhängen oder ein Unternehmer – immerhin der Größte im Landkreis – die Hygienebestimmungen in seinem Betrieb nicht einhält? Zu allem Übel hat das Hotel unsere Buchung storniert – Aufenthalt für Menschen unseres Landkreises verboten!
Dabei bin ich doch gar nicht schuld – ich habe damit überhaupt nichts zu tun!!
Sie, liebe Gemeinde, haben sicher schnell gemerkt, dass ich den eben gesprochenen Text nicht als Andrea Stangenberg verfasst habe, sondern mich in die Gedankenwelt von Menschen aus Gütersloh hineingedacht habe.

Ich denke, nirgendwo in unserem Land ist die Frage nach Schuld, und die Frage nach dem „wie geht es weiter“ gerade aktuell größer als dort. Schuld haben die Unternehmer, die Werksverträge mit EU-Grenzreisenden machen, Schuld hat die Fleischindustrie überhaupt, die sich weder um Tier- noch um Menschenwohl kümmert, ja vielleicht haben sogar wir alle Schuld, die auch gerne mal günstig Fleisch und Wurst einkaufen. Selbst die Kirche musste wieder dran glauben – auch ein ev. Gottesdienst soll als virusverbreitendes Ereignis stattgefunden haben – so kriegt die Kirche auch mal wieder einen Anteil an der Schuld. (Ist ja auch wahrscheinlich völlig unverständlich, dass sich sorgende und ängstliche Menschen mit dem Wunsch nach verstehender Gemeinschaft eher einen Gottesdienst aufsuchen als die Sprechstunde der Stadtverwaltung).
Aber wer oder was ist jetzt eigentlich Schuld? Und wie mit der Schuld umgehen?
Das Thema Schuld und Vergebung steht über diesem 3. Sonntag nach Trinitatis. Es gehört zum Gleichnis vom verlorenen Sohn, dem Evangelium des Tages und früheren Predigttext. Neu hat sich in die sog. Perikopenordnung, dem Vorschlag der Predigttexte ein Text aus dem Prophetenbuch Micha dazugesellt. Es sind die Verse am Schluss des Michabuches die in der jüdischen Tradition eine besondere Rolle spielen, da sie zu den Lesungen am Jom Kippur, dem Versöhnungstag gehören.
Berücksichtigt man dann noch, dass der heutige Sonntag der nach dem Johannistag 24.6. ist (und Johannes auch Buße zur Vergebung gepredigt hat), so werden wir mit der Nase drauf gestoßen: Es geht um Schuld und Vergebung, um Versöhnung und ein Leben in der Gnade Gottes.
Doch hören wir nun einmal den Predigtttext
Micha 7, 18-20
Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

Starke Worte, starke Bilder, liebe Gemeinde.
In ihnen ist noch ein wenig aus der Zeit um das Jahr 700 vor Christi Geburt zu spüren, es ging damals in Jerusalem und Umgebung bereits um Schuld und Vergebung, es ging um Vernichtung oder gerettetes Leben in der Hoffnung.
In den letzten beiden Kapiteln des Michabuches wird eine Art Gerichtsverhandlung erzählt.
Gott selbst führt einen Rechtsstreit mit dem Volk, er klagt es an wegen seiner Verfehlungen. So kann man bei Micha lesen: „Kann ich vergessen unrecht Gut in des Gottlosen Hause und das verfluchte falsche Maß? Ihre Reichen üben nichts als Gewalt, und ihre Einwohner gehen mit Lügen um und haben falsche Zungen in ihrem Halse.“ (Micha 6,10.12)
Dabei ist es eigentlich klar, wie man richtig handeln sollte: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts als Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ (Micha 6,8)
So ist für Jerusalem die Zerstörung die Konsequenz, und Gott spricht einen schauerlichen Urteilsspruch: „Du sollst essen und doch nicht satt werden. Und was du beiseiteschaffst, wirst du doch nicht retten; und was du rettest, will ich doch dem Schwert preisgeben.“ (Micha 6,13 f.)

Für die Menschen in Jerusalem und Umgebung wahrlich eine ausweglose Situation, in der man nicht mehr aus noch ein weiß. Was geschehen war, konnten sie nicht mehr ungeschehen machen, und so wenden sie sich in ihrer Not an Gott und drücken ihre Hoffnung auf Rettung aus. Und da geschieht das Unwahrscheinliche, das Wunder, mit dem man nicht rechnen konnte. Gott wendet sich dem Volk zu. Aus dem Ankläger und Richter wird der Retter. Er kennt die Verfehlungen der Menschen, aber er sieht darüber hinweg, erlässt die Schuld. Gott schenkt Vergebung. Darum endet das Micha-buch mit einem großen Lobpreis: Alle preisen Gott und danken für seine wunderbare Vergebung.
Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“ (V. 19)

Vielen in und außerhalb der christlichen Gemeinde erscheint das so selbstverständlich wie das Amen in der Kirche. Weil am Ende die Vergebung kommt, kann man sich doch das ganze Reden von Schuld und Not sparen. Der Gottesdienst und der christliche Glaube werden zum harmlosen Spiel, auf das man auch verzichten kann.
Nicht umsonst hat Dietrich Bonhoeffer, der Theologe der uns ansonsten auch noch in auswegloser Situation so schön Mutmachen kann und von den guten Mächten erzählt, in seinem Buch „Nachfolge“ sehr ernst und bestimmt jegliche „billige Gnade“ kritisiert. Es sei die Predigt von der „teuren Gnade“ wieder notwendig, mit Kreuz und Jesus Christus und Nachfolge und allem.
Und eben auch mit Gnade und Vergebung.

Der Prophet Micha erinnert uns eben auch daran, dass die Nachricht von der Gnade und Vergebung Gottes sich nicht instrumentalisieren lässt. Es gibt keine billige Gnade für Unterdrücker, Rechthaber, Profitgierige, usw., sondern eine Gnade, die durch das Leiden des Gerechten teuer erkauft ist. Es sagt nicht „Weiter so!“ zu den Tätern, sondern ermutigt die Gedemütigten, sich von Christus selbst den vergiftenden Stachel des Bösen herausziehen zu lassen.
Wir Menschen dürfen, ja sollen wieder dazu kommen, uns mit all unserer Scham und Wut, mit all unserer Schuld und allem drohenden Schuldigwerden Gott in die Arme zu werfen. Damit sein Erbarmen uns aus den Fängen des Bösen herauslöst.
Im Bild vom Schilfmeerwunder gesprochen, mögen wir trockenen Fußes durch die Wogen des Meeres hindurch schreiten, während das Böse in den Tiefen des Meeres untergeht.

So bekommen wir, wir alle, mit den Menschen in Gütersloh wieder eine neue Chance – über Arbeitsgerechtigkeit, Fleischkonsum und das Recht des Stärkeren nachzudenken – denn vielleicht hätte auch ich untätig zugeschaut, wenn mein Hotelier den Gästen aus den Risikogebieten die Tür vor der Nase zuschlägt.

Gottes Gnadenbotschaft darf überhaupt niemals für eine ungerechte Sache instrumentalisiert werden. Es ist ein Unding, dass einige christliche Kirchen wie derzeit in Brasilien und in den USA mit evangelikaler Stimme das ungerechte Regiment ihrer Großen unterstützen, während die Kleinen mit Füßen getreten werden. Die Vision vom Friedensreich taugt nicht zu rassistischer Ausgrenzung und zur Aufrichtung einer ¬Herrenmoral. Sie passt nicht zum Hochmut eines selbsternannten heiligen Restes, sondern führt aus allen Völkern die zusammen, die nach Gerechtigkeit und Frieden streben.

Der Prophet Micha erhebt seine Stimme für die Gerechtigkeit Gottes. In seinen Predigten tritt er den mächtigen Unterdrückern des Rechts entgegen und weigert sich, ihnen nach dem Mund zu reden. Mutig stellt er sich auf die Seite der Opfer. Er nennt geschehenes Unrecht deutlich beim Namen und hält den Tätern Gottes Zorngericht vor Augen. Freundlich hingegen spricht er zu denen, die auf Gottes Wort hören und Liebe üben. Für die Leidenden ist sein Zuspruch Balsam für die geschundene Seele. Mit seiner Heilsvision vom kommenden Friedensreich stärkt Micha ihre verzagten Gemüter. Alles Böse, das hier und jetzt fassungslos macht, wird keinen dauerhaften Bestand haben. Auch wenn es in seiner zerstörerischen Kraft geradezu übermächtig zu sein scheint, ist sein Untergang doch gewiss. Gottes Segen liegt auf dem Gerechten, der in seiner Demut vor den Augen der Welt klein und unscheinbar wirkt. Gott wird seiner Sache zum Sieg verhelfen – gegen allen Augenschein.

Bleibt für uns, darüber nachzudenken, wie wir denn mit Schuld umgehen, und was und wie ein Neuanfang im Sinne einer Nachfolge Christi sein könnte.
Mir fielen drei Situationen ein, wie die Erkenntnis der Bedeutung von verfehltem Handeln und Schuld, die Bitte um Vergebung und Schritte der Versöhnung eine Zukunft im Licht einer teuren Gnade Gottes ermöglichen.
Ich denke 1. An eine junge Frau, sie wohnt alleine in der Großstadt, sie hat Schule und Ausbildung erfolgreich abgeschlossen, aber ist viel alleine, meidet soziale Kontakte und ist ziemlich unzufrieden mit sich selbst. Während einer Therapie wird ihr deutlich, dass ihre strenge Mutter, perfekt und kontrolliert, mit wenig emotionaler Nähe, sie immer nach Kräften unterstützt und gefördert hat, aber dass auch etwas fehlte – ein Angenommensein nur aufgrund der Tatsache, dass sie ein geliebtes Kind ist.
Und in einer gemeinsamen Therapie kommt die Mutter letztlich ihrem Gefühl, nie genug getan zu haben, und die Tochter dem Gefühl, nie genug akzeptiert zu sein, sehr nahe, und sie wagen gemeinsam einen neuen Anfang.

Ich denke 2. An einen Seniorenkreis, alles Menschen, die in ihrer Jugend noch die Hitlerzeit erlebt haben, aber versuche der Pfarrerin mit ihnen über ihre Erfahrungen zu sprechen, immer ausweichen wollen. „Wissen Sie, Frau Pfarrerin, wir hatten eigentlich keine Jugend, und das was wir hatten und uns imponiert oder gut getan hat, dürfen wir nicht haben. Es war eine schwere Zeit und an das wenige Gute daran darf man sich heute nicht mehr laut erinnern.“ Ich habe versucht, mit ihnen daran zu arbeiten, das Schöne und das Schreckliche zu benennen, es einen Moment wirken zu lassen und dann aus den Gedanken zu entlassen, sich und anderen zu vergeben.

Und ich denke 3. An den Familienvater, der mir sagt: „Jetzt wo ich im homeoffice so lange wie nie nahe an meiner Familie war und bin, da stelle ich mein bisheriges Leben so gravierend infrage. Mit dem Auto werde ich die Strecke zur Arbeit nicht mehr fahren, den Coffee to go werde ich mir definitiv zukünftig sparen und auch das Essen in der Kantine oder Fleisch – und Milchprodukte vom Discounter: Das kann alles nicht richtig sein. Wir machen jetzt einen monatlichen Familieneinkauf auf einem Biohof und erproben einen viel bewussteren Umgang mit Verpackungsmaterialien. Wenn es mal noch nicht zu spät ist, und wir schon alles ‚versaubeutelt‘ haben…“ Nicht zuletzt kommt das letzte Beispiel auch nochmal den Gedanken vom Anfang nahe, welcher Corona und die Umstände unserer Lebensmittelverarbeitung verbindet.

„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld“, ruft der Prophet Micha in Anspielung auf seinen Namen: Micha heißt nämlich: Wer ist wie Gott. Dankbar und erleichtert ist er, dass Gott vergibt. Genauso können wir es auch sein. Doch harmlos ist das nicht – es geht um unser Leben. Es geht darum, was wir aus der Vergebung und Versöhnung heraus damit machen. Damit sind wir nicht allein. In seinem heiligen Geist ist der versöhnende Gott und der befreiende Christus bei uns. So sollen wir unsere Wege gehen und einstimmen in den Lobpreis, den alle am Ende des Prophetenbuchs Micha steht: „Gott wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen.“
Amen.