(Predigt gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel am 31. Oktober 2024 in der Versöhnungskirche in Rath-Heumar)
Predigt Teil 1
Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.
Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
viele kennen die Namen der großen Religionskritiker wie Sigmund Freud und Ludwig Feuerbach, die versucht haben darzulegen, dass Religionen nur Wunschprojektionen unserer Selbst, unserer eigenen Bedürfnisses sind. Die Welt ist keine heile, aber wir wünschen es uns. Deshalb erfinden oder brauchen wir Religionen. So etwa in diesem Sinne. Feuerbach kritisierte dabei zudem, dass die Beschäftigung mit Religion von den Problemen und Dingen hier auf der Erde ablenken.
Wir kennen aber auch Religionskritik im Sinne von Kirchenkritik, dass also Menschen sagen: Ich kann durchaus etwas mit dem Glauben, dass es einen Gott gibt usw. anfangen, aber mit dem Bodenpersonal, also der Kirche habe ich Probleme. Das ist als Religionskritik also hauptsächlich eine Art Institutionskritik. Es gibt aber noch eine ganz anders geartete Religionskritik, nämlich die, die ich eine theologische Religionskritik nennen möchte. Sie übt Ihre Kritik gegenüber der Religion also nicht von einer atheistischen Position aus oder ist lediglich Unzufriedenheit über die Beschaffenheit oder Unzulänglichkeit einer Institution, sondern geht sozusagen von Gott aus. Sie bringt Gott selbst ins Spiel, die Bibel, das Kreuz, den Heiligen Geist, also das Anliegen des Glaubens.
Luther war, wenn man so will ein theologischer Religionskritiker, ein gläubiger Mensch, der zum Glauben vorstoßen wollte. Ein Christ, der den Eindruck hatte, dass der Glaube förmlich eingesperrt wurde in der damaligen Kirche und nicht wirklich lebte, nicht wirklich zu den Menschen kommen konnte. Ja, Gott selbst wurde quasi selbst gefangen gehalten. Luther hat auch von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche gesprochen. Und meinte damit im Grunde, dass Gott dort quasi wie ein Gefangener war, der sich dort nicht wirklich entfaltet hätte und zu den Menschen gekommen wäre. Es wurden mehr die Machtinteressen der Kirchenleitenden bedient als die Souveränität Gottes zu beachten.
Luther hat bei seiner Beschäftigung mit den überlieferten Bibeltexten zwei wichtige Entdeckungen gemacht. Das eine ist: Wir leben aus dem Glauben, aus dem Vertrauen auf Gott.
Und die Zuwendung Gottes erhalten wir nicht durch irgendwelche Vorleistungen unsererseits, sondern einfach, indem wir darauf vertrauen, dass Gott uns liebt und uns von sich aus zugewandt ist und bleibt. „Der Mensch wird vor Gott nicht gerecht durch seine guten Werke, sondern allein aus dem Glauben“ so hatte Paulus im Römerbrief geschrieben. Das war für Luther auch der Hintergrund, weshalb er am 31. Oktober 1517 in Wittenberg seine 95 Thesen an die Kirche schlug und gegen den Ablass wetterte. Mit erworbenem Ablassbrief konnte man sich damals mit kirchlichem Segen von den Qualen des Fegefeuers freikaufen. Eine Art Eintrittskarte in den Himmel. Aber den Himmel, die Liebe Gottes kann man sich weder durch besondere Leistungen verdienen, noch durch religiöse Pflichtübungen noch einfach erkaufen. Seine Liebe ist einfach da und es gilt darauf zu vertrauen. Wo bis dahin die Angst in den Herzen der Menschen regierte, die Angst vor einem strafenden Gott und auch vor der Hölle nach dem Tod, floss nun durch Luther und die übrigen Reformatoren Vertrauen und Hoffnung in die Seelen der Menschen.
Es war die befreiende Botschaft für ein in Finsternis und Dummheit gehaltenes Volk. Bislang hatten sich der Papst, die Bischöfe und Priester selbst an die Stelle Gottes gestellt und ihn quasi überflüssig gemacht, weil sie Vergebung gewährt haben, Bußstrafen auferlegt haben oder aber Geldzahlungen, um Gottes Gnade förmlich zu verkaufen.
Entscheidend war bei alledem schließlich auch eine wichtige Entdeckung oder Wieder-Entdeckung Luthers, nämlich die der unmittelbaren persönlichen Gottesbeziehung.
Glauben kann keine Institution für mich. Glauben – das Vertrauen zu Gott suchen und aus ihm heraus leben kann nur ich selbst, kann nur der Einzelne oder die Einzelnen einer Institution gemeinsam. Nichts darf da zwischen den einzelnen Christen und Gott und Christus stehen. Kein Priester, keine Kaste der Heiligen, keine Bischöfe, kein Papst, keine Kirchenbürokratie und keine selbsternannten Autoritäten und Gottesvertreter oder was auch immer. Im Lied „Gott ist gegenwärtig“ drückt der Liederdichter Gerhard Tersteegen dieses Suchen nach der unmittelbaren Gottesbeziehung so aus: „Ich in Dir, Du in mir, lass mich ganz verschwinden, dich nur sehn und finden.“ und in der darauffolgenden Strophe: „Lass mich so, still und froh deine Strahlen fassen und dich wirken lassen.“
Gottes Gegenwart führt mich der Wirklichkeit wieder neu zu und macht mich froh. Das kann sich nur unmittelbar zwischen mir und Gott vollziehen, nicht etwa durch für wahr erklärte Dogmen oder einen Kirchenapparat, der das gerade nicht zulassen möchte.
Obwohl die damalige Kirche es zu verhindern suchte, kam schließlich durch Luther etwas in den Umlauf, was überhaupt erst den Boden für den befreiten Zugang zu Gott und Christus liefern konnte, nämlich die Übersetzung der Bibel in die Muttersprache. Erst so konnten sich Menschen, die des Lateinischen nicht mächtig waren und zuvor die Bibel nie in ihrer eigenen Sprache lesen konnten, die Texte selbst aneignen und ihre eigenen Gedanken dazu machen.
Von der Wartburg, wo Luther die Bibel ins Deutsche übersetzte, ging damit also das große Hoffnungslicht der Reformation aus. Das Wort Gottes kam zu den Menschen und Menschen traten damit wieder in eine unmittelbare Beziehung zu Gott und zu Christus. Gott, so wie er sich mit seiner Hingabe an uns Menschen dem Volk Israel und in Christus gezeigt hat, erfahren wir nicht durch die Betrachtung eines Baumes, der uns wohl gut und gerne über die Schöpferkraft Gottes meditieren lassen mag, sondern nur durch die Bibel.
Die Bibel in die Sprache der Menschen von heute zu übersetzen und darauf zu vertrauen, dass der Geist Gottes wirkt und Menschen dadurch von selbst mit ihm in Kontakt kommen, war nicht nur in deutschen Landen ein hoffnungsvoller befreiender Akt. Das gab es auch in anderen Ländern zeitgleich und sogar zuvor wie etwa in Frankreich beim sogenannten „Bibelfrühling in Meaux“, der 1521 begann und bis in die dreißiger Jahre andauerte.
Was hatte es damit auf sich? Ganz einfach. Der dortige Bischof hatte Menschen um sich gesammelt, die nach und nach die Bibel für das einfache Volk übersetzten. Dort in Meaux- in der Nähe von Paris – lebten einfache Weber. Dort war man mit der Übersetzung des Alten Testaments in die Muttersprache und mit der Herausgabe der Gesamtausgabe sogar 4 Jahre schneller als Luther.
Für die Weber dort eröffneten sich ein ganz neuer Zugang zu dem, was wir „Glauben“ nennen. Es war, als wäre Gott selbst zu Besuch in ihr Leben gekommen. Sie lasen Jesu Seligpreisungen der Armen und auch wie die Propheten der Bibel sich für Recht und Gerechtigkeit der Armen einsetzten. Und so fühlten sie sich von diesem solidarischen Gott zum ersten Mal in ihrem Leben richtig angesprochen und bei ihm richtig aufgehoben, hingegen sie zuvor unhinterfragt die Vorgaben von Kirchenoberen befolgt haben, ohne aber in einer solchen Beziehung zu Gott zu stehen. Die damalige herrschende Kirche hatte nichts Anderes zu tun, als dem Bibelfrühling den Gar aus zu machen, indem sie die Bibelübersetzung verbrennen ließ und die Gläubigen und den Bischof samt den Übersetzern und Predigern verfolgte. Dennoch war wedermin Frankreich noch in Deutschland und zahlreichen anderen Ländern die Reformation noch aufzuhalten. Reformation, die die Kirche so umänderte, dass sowohl Gott selbst befreit wurde als auch Menschen zum Glauben fanden, der sie anders als zuvor nun existentiell berührte. All das wurde angestoßen nicht durch eine Religionskritik von außen, sondern von innen, die den Glauben, also das Vertrauen auf Gott und Christus wieder isn Zentrum gerückt hatte, statt die Hörigkeit gegenüber den damaligen kirchlichen Autoritäten. Luther wollte neu vorstoßen zu dem, was Glauben bedeutet. Auf gut deutsch: Gott und Christus ihre Souveränität und Unabhängigkeit wieder zurückgeben und mit ihnen in ein neues Verhältnis eintreten. Amen
Lied: EG 362, 1-4 („Ein feste Burg ist unser Gott“ – spätere Form)
Predigt Teil 2
Man könnte sagen: Martin Luther war ein erster Vertreter einer theologischen Religionskritik, also des Versuchs zwischen Gott und Mensch in der real existierenden Kirche und Religion zu unterscheiden. Ein Versuch, der Gott eine Stimme verliehen hat, die nicht aufging in der Stimme der Bischöfe, Kirchenfürsten und Kirchenleitenden.
Mehr und mehr hat sich der Mensch seit dem Zeitalter der Reformation dadurch auch ganz allgemein von überkommenen Autoritäten befreit.
Das hatte sein Gutes. Aber spätestens im 20. Jahrhundert gab es eine neue Situation, wo es erneut einer theologischen Religionskritik bedurfte. So wie Luther seiner Zeit Gott stark gemacht und aus den Klauen der Herrschenden der Kirche befreit hatte, so hat später auch Karl Barth, der wohl bekannteste Theologe des 20. Jh. Gott stark gemacht in einer Zeit, als viele Menschen in die Irre gingen und eine wahre Glaubensarmut herrschte, wenn man so will. Wovon rede ich? Was war geschehen? Es war eine Zeit, in denen in der Kirche nur noch Moral und Gutmenschentum gepredigt worden war, sogenannte Sittlichkeit, also das sittlich richtige und angemessene Verhalten. Eigentlich ähnlich wie heute, wo wir von den Kirchenleitungen viel moralische Hinweise zu der vorgeblich richtigen Gesinnung hören, also viel Gesinnungsethik, aber wenig Verantwortungsethik und Fragen und Suchen, was Gott selbst uns heute sagen will?
Karl Barth hat eine wesentliche menschlich und theologisch enttäuschende Erfahrung gemacht. Als 1914 der 1. Weltkrieg ausbrach und viele enthusiastisch und begeistert in den Krieg gezogen waren, stießen auch die Kirchenleitenden ins selbe Horn. Kirchenleitungen überschlugen sich damit, klar auszumachen, wer der Feind ist und dass Gott natürlich in diesem Krieg eindeutig auf der Seite der Deutschen steht und nicht der Franzosen etwa. Überall hieß es „Gott mit uns“. Es war auf den Koppelschlössern der Soldatengürtel zu lesen und auf den Flugzeugbomben. Adolf von Harnack war einer seiner eins bewunderten theologischen Lehrer. Und nun komme ich zu der persönlichen und theologischen Enttäuschung. Adolf von Harnack verfasste als Theologe gemeinsam mit dem Historiker Reinhold Koser am 6. August 1914 den nationalen Aufruf „An das deutsche Volk“ von Kaiser Wilhelm II. Sie waren also seine Ghostwriter. In diesem Aufruf wurden die Opferrolle Deutschlands, der Beistand Gottes (also das „Gott mit uns“) und die Bereitschaft zum totalen Kampf „bis zum letzten Hauch von Mann und Roß“ beschworen.
Karl Barth kam zu dem Schluss, dass das so etwas wie ein Verrat an Gott war. Jedenfalls wurde die Souveränität, ja die Autorität Gottes kaum ernst genommen, wo er, wie hier, für die eigenen politischen Zwecke vereinnahmt wurde und Positionen, von denen die Masse auch ohne Religion ohnehin der Meinung war, dass sie die richtigen wären.
Abgeschreckt von seinem einstigen theologischen Vorbild brach für ihn eine Welt zusammen, in der er versuchte die Puzzles von Gott, Religion, Glaube usw. ganz neu zusammenzufügen. In diesem Wunsch „Gott mit uns“ oder „Gott will es so“ wie in früheren Jahrhunderten schon die Päpste zu den Kreuzzügen und Gewalt aufgerufen hatten, sieht er die Kritik von Sigmund Freud und Ludwig Feierbach bestätigt, wonach Religion nur eine Projektion der Wunschfantasien des Menschen ist.
Er würde ihnen sogar beipflichten. Karl Barth kommt zu einer radikalen Unterscheidung zwischen dem, was er Religion nennt und dem, was er die Selbstoffenbarung Gottes nennt. Religion ist nach ihm der Versuch des Menschen, sich Gott gefügig zu machen und seiner zu bemächtigen und ihn am Ende eben für die noch so niedrigsten menschlichen Beweggründe zu benutzen. Die Selbstoffenbarung Gottes ist hingegen das Geschehen, das von Gott ganz unabhängig vom Menschen ausgeht. Bezogen auf Sigmund Freud und Ludwig Feuerbach würde Karl Barth formulieren. Ja, die Wunschprojektionen sind da, aber das heißt nicht, dass die Projektionsfläche nicht auch da wäre. Also das, worauf die Bilder und Wünsche projiziert werden. Es ist wie Gott unabhängig davon da und muss unbedingt unterschieden werden.
Und so kommt Karl Barth zu dem radikalen Schluss, dass Religion im Grund Unglaube ist und das angemessene Verhalten des Gläubigen nur sein kann, die Selbstoffenbarung Gottes wahrzunehmen und auf sie zu zu antworten, sich an diese zu halten als an die eigenen religiös überhöhten Wünsche, wie etwa, dass Gott „mit uns im Krieg“ sei und nicht mit den Kriegsgegnern wie damals die Franzosen oder Engländer,
Mehr und mehr reift diese Erkenntnis in Karl Barth und wird schließlich zur Grundlage eines ganz wichtigen Bekenntnisses in einer baldigen ganz neuen historischen Situation.
1933 ergreifen die Nationalsozialisten die Macht, nachdem sie mehrheitlich vom Deutschen Volk gewählt worden waren. Wieder hatte die damalige evangelische Kirchenleitung mehrheitlich den Wahlsieg der Nationalsozialisten begrüßt und sie beglückwünscht. Schon bald wurde innerhalb der Kirche der Arierparagraph eingeführt. Juden, die Christen geworden waren und als Pfarrer oder anders beruflich in der Kirche waren, wurden von den nationalsozialistisch infiltrierten Kirchenleitungen, den sogenannten Deutschen Christen aus dem Amt entlassen. Niemöller, Bonhoeffer und Barth so wie andere mit ihnen auf einer Linie Stehenden gründeten den Pfarrernotbund, der sich solidarisch mit den gechassten Kollegen zeigte und diese materiell und unterstützte. Längst hatte aber die Idee der Nationalsozialisten von einem sogenannten tausendjährigen Reich Einzug in den Kirchen erhalten. In Köln waren die Presbyterien zu 70 Prozent mit den sogenannten Deutschen Christen besetzt. Eine Ausnahme war der Kölner Pfarrer Georg Fritze, der auf der Linie von Karl Barth stehend auf Distanz zu dem nationalsozialistischen Regime ging und von der Kanzel predigte: „Als Christen erwarten wir nicht das tausendjährige Reich, sondern das Reich Gottes“. Besser hätte man die Diskrepanz zwischen der Wunschprojektion der Menschen und dem, was hingegen eigentlich Gottes Selbstoffenbarung kaum auf den Punkt bringen können.
Karl Barth ist schließlich der Hauptverfasser der sogenannten Barmer Theologischen Erklärung von 1934 geworden, einem Bekenntnis der wenigen Christus-treuen Kirchenleute und Theologen. Es war der Versuch Den Nationalsozialisten die Rote Karte zu zeigen, die zunehmend in die Belange der Kirchen reinregierten, wie etwas das Beispiel der Anwendung des Arierparagraphen auf Kirchenbedienstete zeigte: Nach dem Motto: Bis hierher und nicht weiter! Darin sind Sätze zu lesen wie die Folgenden: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“ Oder: Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften.“ Oder: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“
Man spürt wie sehr das Anliegen war, den Glauben von jeglichen Ideologien zu befreien und damit Gott selbst zu befreien. Ähnlich wie Luther hat Karl Barth also in einer ganz anderen Zeit Gott groß gemacht und ihn quasi als Gegenüber gesehen, als Korrektiv zur etablierten Religion, die nur noch bestimmten Machtinteressen das Wort geredet und Ideologien Platz gemacht hat statt mit dem Wort Gottes dem bornierten Geist, wie er damals in der Kirche vorherrschte entgegenzutreten.
Karl Barth und seine Weggefährten waren damals die Einzigen, die dem Mainstream entgegen getreten sind und ,ehr oder minder widerständig waren oder gar in den aktiven Widerstand gegangen waren wie Dietrich Bonhoeffer etwa. Heute wissen wir, dass diese Minderheit so etwas wie die Ehrenrettung Gottes und des Glaubens darstellte.
Musik: Instrumentalstück des Rather Renaissance-Quartetts
Predigt Teil 3
Und heute? Viele ziehen aus den vielen Kirchenaustritten den Schluss, die Kirche müsse moderner werden. Dabei übersehen sie jedoch, dass der augenblickliche gesellschaftliche Trend nicht etwa eine theologische Religionskritik darstellt wie zu Zeiten Luthers oder Karl Barths, durch den sich die Kirche schließlich geläutert hatte, sondern vielmehr gesellschaftliche Ideologien in die Kirche hineintransportiert und Zeichen von Unglauben darstellt. Kirchen sollen ihre Serviceleistungen verbessern, als wenn wir ein Selbstbedienungsladen wären oder dergleichen. Theologische Religionskritik würde heute vielmehr bedeuten, den Menschen von heute mal den Spiegel vor Augen zu halten und sie wachzurütteln. Die heutige religiöse Situation ist nämlich, dass wir in einem Zeitalter der Selbstvergötterung des Menschen leben. Er kennt nur noch sich selbst und seine eigenen Bedürfnisse. Da ist kein Blick mehr offen für Gott selbst oder das, was er uns zu sagen hätte. Der Heilige Geist selbst muss sich wieder zu Wort melden, wo die Welt entheiligt wird und sich selbst zum Gott macht.
Die Reformen der Kirche setzen völlig falsch an, wo sie ihre Serviceleistungen verbessern soll. Ist Kirche ein Dienstleistungsunternehmen oder ein Supermarkt? Das doch wohl hoffentlich nicht. Außer Moral und die richtige Gesinnung haben die Kirchenleitungen heute allerdings kaum noch etwas mitzuteilen. Dabei wäre es dringend erforderlich wieder von und mit Gott zu reden, eben die Glaubensfragen anzugehen, statt uns unser Kirche-Sein durch gesellschaftliche Trends und Modeideologien zu hinterfragen. „Schuster bleib bei deinen Leisten“, sagt man dem Schuster, damit er eine gute Arbeit macht. „Kirche bleib bei deinem Gott, bleib bei Christus“, müsste man ihr sagen, „damit Du eine gute Arbeit machst“. Man würde Gott wieder groß machen und den Glauben aus seiner Gefangenschaft eines moralistischen Korsetts zu befreien. Heute hat man den Eindruck, dass sich Evangelische Kirchenleitungen darin gegenseitig überbieten, zu sagen was moralisch richtig und was moralisch falsch sei, was richtig und falsche Gesinnung sei und sie erweisen sich darin fast päpstlicher als der Papst. Als wenn wir mit einer klimaneutralen Kirche in den Himmel kämen oder mit Seenotrettungsboten für die vielen Geflüchteten oder mit Gendern bis zur Unkenntlichkeit der eigenen Sprachen. Ich habe nichts gegen all diese Anliegen. Aber darin geht unser Glaube nicht auf und sie machen aus uns auch keineswegs automatisch gute Christen. Gut täte es uns vielmehr, wenn wir Gott in unserem Leben wieder die ihm gebührende Größe zurückgeben würden, die ihm gebührende Aufmerksamkeit, das ihm gebührende Gehör.
Gut und hilfreiche theologische Religionskritik wäre es, wenn Gott uns ein herausfordernder Fragender werden würde. Ja, wenn Gott seinen Mund auftäte und sprechen würde um unsere eigene heutige Verfangenheit in Ideologien und neue Götterbilder offen zu legen, sei es die Verabsolutierung des wirtschaftlichen Profits um jeden Preis, sei es die Vergötterung des Selbst und der sogenannten Autonomie, also Selbstbestimmung, sei es der Vorstellung, wir könnten uns und die Welt erlösen, wenn wir nur genügend E-Autos bauen oder wirtschaftlich weiter endlos wachsen könnten.
Es wird Zeit für eine Zeitenwende. Eine Zeitenwende, wo nicht wieder alte Muster bedient werden wie Schlag und Gegenschlag, Gewalt und Gegengewalt, sondern wo Gott selbst das Zepter in die Hand nimmt und uns befreit von eingeflößten Ängsten. Eine Zeitenwende, wo wir wieder unterscheiden lernen zwischen dem, was Menschenwille ist und dem, was Gottes Wille ist. Gott muss wieder das Wort erhalten. Er darf nicht totgeschwiegen werden und auch nicht sein unermüdlicher Einsatz für den Frieden. Gott muss das letzte Wort behalten und nicht wir Menschen, nicht unser Ego und nicht die Herren dieser Welt dürfen das letzte Wort behalten, sondern der Herr der Welt. Nicht der Mammon, dem man sämtliche öffentlichen Haushalte opfert und von ihm ausrauben lässt, sondern dem HERR, der uns gezeigt hat, was Hingabe und Teilen bedeutet. Nicht unsere Kirchen müssen ein neues Stadium durchlaufen und laufend reformiert werden und ein neues religiöses Gesicht bekommen, sondern die religiöse Überhöhung unserer Überfluss- und Wegwerfgesellschaft muss demaskiert werden. Ja, Gott selbst muss das Wort ergreifen und es unbedingt behalten. Ich wünsche mir einen der den Mund aufmacht, wie einst Luther oder später Karl Barth, um Gott Gehör zu verschaffen. Dieser jemand kommt nicht? Dann müssen wir es selbst tun. Wir müssen wieder über und von Gott sprechen. Wir müssen uns was von Gott sagen lassen. Amen
Lied: EG 193, 1-3 „Erhalt uns Herr bei deinem Wort“
Amen