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Predigt am Sonntag Reminiscere 05.03.2023

Predigt zu Matthäusevangelium,  Kap. 16, 24 bis 26 (gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Versöhnungskirche, Köln-Rath-Heumar)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen!

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

vielleicht kennt Ihr auch den Ausspruch „Ich vergess‘ mich gleich“. Wenn das einer sagt, ist das nicht nur einfach ein Ausspruch, sondern in der Regel eine Drohung, wie etwa: „Noch so’n Spruch und ich vergess‘ mich gleich!“.

Jedenfalls hatten es Onkel, Tante oder Vater zu mir als Kind oder zu Anderen immer gesagt, wenn sie äußerst erzürnt waren. So wütend, dass sie gleich am liebsten losgeschlagen hätten. Deshalb die Drohung: „Ich vergess‘ mich gleich“. Mit anderen Worten: Ich werde dich gleich schlagen, wenn Du so weiter machst und mich weiter provozierst mit deinen Worten oder dem, was Du tust. Dann zeige ich mich so, wie ich sonst nicht bin. So, als wenn ich vergessen hätte, wer ich eigentlich bin und wie ich sein möchte, nämlich geduldig, freundlich usw.“

Es geht hier also um eine Haltung oder ein Verhalten, das jemand sonst nicht an den Tag legt.

„Ich vergeß mich gleich“ – eigentlich haben wir ja fast schon über 75 Jahre erfolgreiche Friedens- und Aussöhnungspolitik. Aber weil jetzt Russland in die Ukraine eingefallen ist und eine behauptete Zeitenwende da ist, vergessen wir uns gleich. Das Vergessen geht ganz schnell wie in einem Augenblick, wo einem die Hand ausrutscht – ein Frustrationspunkt, wo das Fass übergelaufen ist, so würde man wohl sagen und rechtfertigen.

In dem Lied, das wir eben gesungen haben, wird dieses „sich vergessen“ jedoch ganz anders gebraucht, auch wenn es da ebenso mit der eigenen Identität und einer Lebenshaltung zu tun hat.

Ihr könnt da gerne noch mal ins Liederheft schauen – in der Nr. 2 heißt es da in der ersten Strophe: „Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen und neu beginnen ganz neu.“ Da könnte man noch sagen: „Naja, das ist doch jetzt auch so ein Neubeginn, wo Milliarden in die Rüstung gesteckt werden und endlich der Weg verlassen wird, wo man das nun fast über Jahrzehnte nicht mehr gemacht hatte.

Aber das Selbst-Vergessen in dem Lied nimmt eine ganz andere Wendung. Es hat eine ganz andere Zielrichtung. „Wo Menschen sich vergessen, die Wege verlassen und neu beginnen ganz neu, da berühren sich Himmel und Erde, dass Frieden werde unter uns.“

Genau dasselbe, dass also der Friede durch einen neuen, anderen einzuschlagenden Weg kommt, werden nun aber vielleicht auch viele sagen, die die immensen Waffenlieferungen rechtfertigen indem sie behaupten: Frieden wird es nur mit Waffen geben. Frieden wird es nur durch einen Sieg geben.

Aber es ist klar, dass das so in diesem Lied eben gerade nicht gemeint ist.

Es geht in der Tat in dem Lied um unsere Identität und unsere Haltung. Und es geht tatsächlich auch um eine Identität und Haltung, die man jetzt mal vergessen und ad acta legen müsste und eine andere, die einzuüben wäre und uns als Christen gut ansteht.

„Sich vergessen“ meint in dem Lied aber eben gerade nicht „Nun mal alle Hemmungen verlieren“ und nach altem bewährten Muster verfahren – nämlich, dass die Macht der Fäuste und Waffen grundsätzlich das Sagen haben sollen.

„Wo Menschen sich vergessen“ soll doch hier in der ersten Liedzeile eindeutig bedeuten: „Wo Menschen mal zu sich selbst auf Abstand gehen“, „Wo Menschen mal nicht nur sich selbst und ihre eigenen Verletzungen im Vordergrund sehen“. Es ist genau das, was Menschen die Versöhnung nach dem Jugoslawienkrieg heute immer noch so schwer macht. Da ist der Krieg mitten durch die eigenen Familien gegangen und das ist so schwer zu vergessen und zu vergeben. Aber es führt kein Weg dran vorbei, das hinten an zu stellen, wenn es einen Weg der Versöhnung und des Friedens dort geben soll.

„Wo Menschen sich vergessen“ heißt also „Wo Menschen nicht nur sich selbst sehen, nicht nur ihre eigenen Interessen sehen, nicht nur ihre eigenen Kränkungen und Verletzungen, sondern auch die der Anderen, nicht nur ihre eigenen Vorteile oder was auch immer, sondern auch die der Anderen, da berühren sich Himmel und Erde, da findet menschliche Begegnung und Bewegung statt, da wächst Friede. Wo Menschen mal nicht nur ständig „ich, ich, ich “ sagen, sondern zur „Wir“-Perspektive vorstoßen, könnte man auch sagen, da berühren sich letztendlich Himmel und Erde, da wird der Same für den Frieden gelegt. Da wird an einer Zukunft mit Frieden gebaut.

Dieses „Sich-Vergessen“ in diesem Lied ist so ganz anders gemeint als das meiner Tante, meines Onkels, meines Vaters oder wie die neuerliche Mehrheitsposition in der augenblicklichen politischen Krise.

Dieses „Sich-Vergessen“, wie es im Lied ausgedrückt ist, finde ich in Jesu Worten und auf Jesu Spuren wieder. Das zuerst angesprochene „Sich-Vergessen“ hingegen nicht. Jesus hat nie die Gewalt oder den Zorn gerechtfertigt, sondern hat sich der Gewalt allenfalls mit aller Macht entgegengestellt.

Die Haltung des „Sich-Vergessens“, das zum „Wir“ vorstoßen will, finde ich in ganz konkreten JesusWorten wieder. Und ich möchte mit Euch versuchen, diese Haltung und diese Worte Jesu besser zu verstehen, sie in der Tiefe zu verstehen. Zu verstehen, was sie für unsere Existenz heute aussagen.

Das „Sich-Vergessen“, wie es im Lied gemeint ist, berührt sich mit den Worten des für den heutigen Sonntag vorgeschlagenen Predigttextes. Da heißt es im Matthäusevangelium Kap. 16 unmittelbar nach der ersten Leidensankündigung Jesu in den Versen 24 bis 26 im Blick auf die Frage der Nachfolge:

„Da sprach Jesus zu seinen Jüngern: Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden. Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Amen.

Es geht um die Frage der Nachfolge und der rechten Lebensweise, also um Christsein oder Nicht-Christsein. Und die angemessene Haltung des Christseins beschreibt Jesus als „sich verleugnen“– was eben genau das heißt: „Sich selbst vergessen“. Es ist genau dasselbe gemeint.

Einer, der sich selbst vergessen kann, ist nicht etwa einer, der überhaupt nicht an sich selbst denkt oder sich selbst nicht lieben würde, sondern jemand, der das nicht immer zu in den Vordergrund stellt und sein Sorgen um sich selbst gerne auf Kosten Anderer durchsetzen möchte. Wenn wir nicht auch um uns selbst sorgen würden, dann würden wir die Verantwortung für uns selbst in Gottes Hand zurück legen. Aber darum geht es nicht. Das sollen wir ja durchaus tun, jedoch immer mit der Blickrichtung, dass wir von uns absehen können, immer mit der Blickrichtung auf die anderen Geschöpfe Gottes. Wer dem Ruf Jesu folgt und sich verleugnet oder vergisst, hebt also nicht seine Selbstverantwortung auf, sondern nur seine eigene Selbstbezogenheit im Denken und im Handeln.

Jesus sagt aber nicht nur: „Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst“, sondern auch: „und er nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.“

Jesus spricht also auch von den Konsequenzen, die ein Weg als Christ mitunter haben kann, nämlich im Zweifel auch Verzicht zu üben und Nachteile in Kauf zu nehmen, ja, sogar Leid auf sich zu nehmen.

Das tut man als Christ ja eigentlich schon in dem Moment, wo man Anderen gegenüber zugewandt lebt. Da sehe ich ihre Krankheit, ihre Schmerzen. Da berührt mich das. Ich denke gerade an die Menschen, die von sich aus freiwillig Kranke oder andere Hilfsbedürftige in unserer Gemeinde besuchen oder versorgen, ohne dass das vielleicht groß wer mitbekommt.

Es gibt auch Menschen, die engagieren sich ehrenamtlich in der Sterbebegleitung. Oft werden die von Anderen gefragt: „Sag mal, zieht dich das nicht total runter? Wie kannst Du das nur ertragen? Warum tust Du dir das an.“ Und sie antworten ganz oft: „Nein, das zieht mich nicht einfach nur runter. So, wie ich etwas gebe, gibt es mir selbst was. Allein schon die Verbindung mit dem Menschen, um den es da geht. Oder ein Lächeln der Dankbarkeit. Es kommt so viel zurück. Ja, die Sterbebegleitung gibt mir sogar viel Erfüllung, weil ich etwas Sinnvolles tue.“

Und genau das, ist es, was Jesus ausdrücken will, wenn er sagt: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ Im ersten Moment klingt das, was Jesus da sagen will, paradox – widersprüchlich. Was soll das heissen: „wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren“ ? Was ist da angesprochen? Was will Jesus damit sagen? Ganz einfach: „Wie kommt es, dass wir Menschen oft nur um uns selbst kreisen? Es ist die Angst, die uns da treibt. Es ist die Angst, vielleicht zu kurz zu kommen, nicht genug zu bekommen oder auch die Angst, etwas im Leben zu verpassen.

Das ist ein ganzes Stück weit natürlich. Aber diese Angst kann sich über alles drüber legen und mein Leben vollständig bestimmen und leiten. Und dann kommt es schließlich zu solchen Erfahrungen. Die Angst treibt mich an, etwas festzuhalten, weil ich es nicht verlieren möchte. Aus Angst baue ich mir einen großen Zaun um mein Haus. Aber vielleicht gerade weil der große Zaun da ist, zieht es Einbrecher an, die mein Haus ausrauben und am Ende verliere ich alles. Aus Angst häufen Menschen bei Börsenspekulationen Besitztümer an. Aber von heute auf morgen können sie alles verlieren, weil ein Anderer schneller oder cleverer war. Ich will meine Kinder gerne festhalten. Sie sollen nicht aus dem Haus gehen. Aber je mehr ich versuche, sie festzuhalten, umso schneller wollen sie aus dem Haus und umso weniger kehren sie zurück. Wir wollen das Leben aus Angst heraus festhalten, aber es entgleitet uns umso mehr, je mehr wir das versuchen.

Das meint Jesus, wenn er den Satz sagt: „wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren.“ Da helfen auch kein Gesichtslifting und keine Verjüngungskuren oder dergleichen. Um jeden Preis alles Festhalten wollen provoziert den Neid und den Unmut der Anderen, die auch irgendetwas festhalten und ihr Eigen nennen möchten. Ungerechtigkeit und Armut bringt dann schnell Unfriede und Unfriede endet im schlimmsten Fall mit Krieg. Und aus dem Haben wollen und dem angehäuften Besitz wird ein Aschehaufen.

„Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren.“ Wir wollen so viel haben und am liebsten alles und an allem festhalten. Denn die Angst treibt uns, wir könnten ja irgendetwas verlieren. Wie wahr ist da der Satz der verstorbenen Kölner Theologin und Schriftstellerin Dorothee Sölle. Sie hat einmal gesagt: „Es muss doch mehr als alles geben“. So ist auch eins ihrer Bücher überschrieben.

„Es muss doch mehr als alles geben“. Die Marktwirtschaft und die Werbeindustrie reden uns gerne ein, wir müssten alles haben. Bedarfsweckung nennt man das auch im Wirtschaftsfachjargon. Jesus sagt hingegen, wir müssen nicht alles haben, denn wenn wir alles wollen, verlieren wir alles. Unser Leben ist mehr als alles. Und so fragt Jesus kritisch: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“

Das ist doch hochaktuell. Obwohl wir in unserer reichen westlichen Gesellschaft alles haben, gibt es bei uns mehr Suchtkranke als je zuvor und unsere Seele nimmt offenbar großen Schaden. Wir haben die ganze Welt auf dem Handy in der Hand. In Wirklichkeit aber hat das Handy uns in der Hand. Man weiß nicht nur unsere Gewohnheiten, sondern das Handy macht mich kirre und bindet meine Seele und Aufmerksamkeit. In der Bahn schauen mehr Leute ins Handy und suchen dort ihre zukünftige Freundin als sie auf dem Platz neben sich zu suchen, indem man mal ein Wort mit der Frau redet, die in der Bahn gerade direkt neben einem sitzt. Wir meinen, die Welt gewonnen zu haben und verlieren uns doch.

Eben, es muss mehr als alles geben. Mit Jesus können wir lernen, loszulassen und dadurch Leben zu finden. Nicht immer ängstlich alles haben zu wollen und an allem festzuhalten, sondern Hingabe zu zeigen, um Leben zu empfangen.

Wie geht das? Vielleicht so wie es die ehrenamtlichen Strebbegleitenden machen. Sie geben einen Teil ihrer Zeit. Sie geben etwas ab, etwas von sich selbst. Sie teilen und empfangen dafür doch so viel. Vielleicht auch so wie es die Kinder in der Grundschule erzählt haben. Gefragt, wie sie die Fastenzeit verbringen, haben sie gesagt, indem sie mal auf etwas verzichten. Eben, es muss doch mehr als alles geben. Sie wollen lernen, zu merken, dass sie nicht alles immer brauchen und dass es gut sein kann, für einen selbst, Verzicht zu leisten. Befragt, auf was sie denn verzichten würden, kamen tolle Antworten: Ich verzichte auf Süßigkeiten… Und ich verzichte auf Süssigkeiten und das Geld schenken wir den Armen in Afrika. Und ich schenke das den Erdbebenopfern von Syrien und der Türkei. Die haben auch nichts. Ich verzichte sechs Wochen auf Nintendo, mein Computerspiel… Ich verzichte auf Cola… ich verzichte, darauf, meine Spielsachen nur allein zu benutzen. Meine Schwester darf sie alle auch benutzen in dieser Zeit… usw. usw.

Jedes Kind weiß also, dass das Leben mehr als alles ist! Und dass Jesus uns gezeigt hat, wie man glücklich leben kann… einfach, indem man auch mal loslässt. „Wer sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es finden“ sagt Jesus. Wer loslässt, wer etwas von sich selbst dahingibt und Hingabe zeigt, wird diese Seligkeit entdecken, nicht erst irgendwann nach dem Tode, sondern schon in diesem Leben hier. So kommen wir schließlich vom Ich zum Wir. Amen