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Predigt für den 3. Mai 2020, Sonntag „Jubilate“

(von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder in Jesus Christus,

„Wer schreibt, der bleibt“ – so lautet ein berühmtes Sprichwort. Schreiben als eine Art Verewigung. Wir wollen alle gerne ewig bleiben, aber auf der anderen Seite auch nicht ewig leiden. Heutzutage schreibt allerdings kaum noch jemand. Die Bücher werden zunehmend abgelöst durch Bilderwelten der Computer, CD ROMS und Smartphones und der Charme handgeschriebener persönlicher Briefe durch elektronische Schnellnachrichten.
Was ist heute das Bleibende im Zeitalter der Bilder- und Informationsfluten – oder soll man besser sagen der Desinformationsfluten? -, der Hochgeschwindigkeitszüge, der tausend wechselnden Programme im Fernsehen wie auch im richtigen Leben und der mannigfachen radikalen ständigen Veränderungen am Arbeitsplatz? Was kann da überhaupt das Bleibende sein? Wo bleiben wir da?
„Auf der Strecke“, würde vielleicht manch einer antworten. Der Mensch bleibt auf der Strecke. Oder noch schlimmer: Er bleibt ganz der Alte. Wie schrecklich ist das doch manchmal zu hören: „Du bist ganz der Alte geblieben!“ Mit anderen Worten: „Du hast dich überhaupt nicht verändert.“ Das ist ernüchternd, denn wenn ich ganz der Alte geblieben bin und mich überhaupt nicht verändert habe, dann bin ich doch vielleicht auch ziemlich tod.
Oder ist es doch viel positiver zu hören? Im Sinne von beständig, verlässlich, gleich bleibend in all den wirren Zeiten, wo eben alles zerrinnt, Werte verfallen und sogenannte Sachzwänge regieren. Wo bleibt da der Mensch? Auf der Strecke?
Nach dem, was wir im Johannesevangelium aus dem Munde Jesu hören, bleibt der Mensch nicht auf der Strecke, solang wir in Christus bleiben. Solang wir am Weinstock bleiben, müssen wir nicht auf der Strecke bleiben. So könnte man die Bildnisrede zusammenfassen. In Kapitel 15, 1-8 hören wir: „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, daß sie mehr Frucht bringe.
Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.
Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt.
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.
Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen.
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch zuteil werden.
Dadurch wird mein Vater verherrlicht, daß ihr viel Frucht bringt und euch als meine Jünger erweist. Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich Euch geliebt. Bleibet in meiner Liebe.“
Liebe Schwestern und Brüder in Christus, eines wiederholt sich immer wieder: „Bleibet in mir!“. Das sind die Worte, die wir hier immer wieder hören. In der Angst vor der Unbeständigkeit des Lebens, die die Menschen damals nicht weniger erfasst hat als uns heute, erklingen diese Worte: „Bleibet in mir!“ Auch und gerade der Tod, wie er durch das Corona-Virus nunmehr auf einmal bedrohlich im Raum steht, war den ersten Christen damals viel deutlicher vor Augen: Christenverfolgungen waren an der Tagesordnung. Die Frage des Bleibens stellte sich für die ersten Christen also auch noch mal in einem ganz anderen Licht dar:
Warum an Christus bleiben, wenn ich mit Gefängnis oder Tod bedroht bin? Auch die Sorge um das Leben und Überleben (also um das Bleiben) der Bauern und Weinbauern war abhängig von den Begehrlichkeiten der Großgrundbesitzer und Großhändler. Ansatzweise erleben wir das heute in unseren Breitengraden, wo die Bauern wegen schlechter Milchpreise protestieren. In anderen Teilen dieser Welt ist das weitaus deutlicher. Da sterben Menschen vor Hunger, weil unsere Preise sie in die Knie zwingen und wenn sie auch noch so fleißig sein mögen. Freilich sind aber gerade jetzt in der Corona-Zeit auch in unseren Breitengraden auf einmal viele Betriebe oder Gewerbe vom existenziellen Aus bedroht. „Wo bleiben wir?“ fragen sie mit zunehmend lauter und klagender Stimme. Sie eleben die existentielle Bedrohung ihres Lebens, wie sie andere in der Kriegs- und Nachkriegszeit erlebt haben und da ihre eigenen Erfahrungen damals gesammelt haben – Erfahrungen und Erzählungen, von denen lange niemand mehr was hören wollte.
„Bleibet in mir!“ ruft Jesus all denen zu, die drohen auf der Strecke zu bleiben. Aber jeder, der die Worte hört und liest, fragt sich, wie das denn gehen soll. Und bleiben wir da, was den Wortlaut des Bibeltextes selbst betrifft, nicht auch auf der Strecke? Da ist doch von Aussortieren die Rede, spätestens in dem Moment, wo der Wein geschnitten wird: „Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen.“ Irgendwie klingt auch das wie ein Wettlauf, unbarmherzig wie wir das aus unserem Wirtschaftsleben mit ihrer harten Konkurrenz kennen – so, als wenn es doch auch nur darauf ankäme, was ich alles vorzuweisen habe. Bringe ich tatsächlich ausreichend Frucht? Oder bin ich nutzlos?
Läuft diese Weinlese am Ende nicht auf dieselbe Lesart des Lebens hinaus wie wir sie von überall anders her auch kennen, nämlich, dass sich nur das Bessere, Stärkere, Widerstandsfähigere durchsetzt und am Ende überlebt? Und es soll ja sogar Leute geben, die genau das als Rezept zur Bewältigung von Corona vorschlagen: „Die Zugehörigen der Risikogruppen haben doch ohnehin nicht mehr lange zu leben… Denen wird das ganze Wirtschaftsleben jetzt geopfert und das müsste genau umgekehrt sein etc.“ Schnell wird der Wert und das Bleiben eines alten Menschen in dieser Denke aussortiert.
Begegnet diese Denkart etwa auch im Gleichnis? Überleben der Besten und Fittesten? Vielleicht bedarf es einer anderen oder genaueren Lesart des Gleichnisses Jesu, um zu erkennen, dass wir dort nicht Verlorene, sondern umgekehrt Erlesene sind, gewissermaßen gewollte Überlebende sind. Ja, dass es hier um einen hoffnungsvollen visionären Text geht. Erlesene, nicht etwa, weil wir so toll oder stark oder sonst was wären.
Nein, die Begründung finden wir im Gleichnis selbst und sie ist ganz einfach. Wir hängen an diesem Weinstock und leben aus diesem Weinstock. Er ist schon längst da. Den erfinden wir nicht neu. Der kommt nicht aus unserer eigenen Kraft, aus unserem Vermögen. Nicht die Triebe, die Reben geben dem Weinstock Kraft, sondern umgekehrt.
Ja, in der Weinkultur ist der ganze Weinstock mit seinen Reben wirklich so etwas wie ein lebendiger Körper. Man spricht davon, dass der Weinstock blutet wie ein menschlicher Körper, weil er seinen Saft verliert, wenn man an ihm bzw. seinen Reben zu den falschen Zeiten schneidet.
Wir leben aus diesem Christus, der für uns Mittler zu Gott ist. Er war und ist vor uns da.
Gestern am Samstag habe ich ein Erlebnis gehabt, wo mir das noch mal auf ganz einfache Weise bewusst geworden ist. Ich war im Supermarkt und dachte: „Hm, vielleicht sollte ich ein paar Weintrauben kaufen und davon ein Foto zur Predigt ins Netz stellen – wäre doch gut als Anschauungsmaterial für die heutige Predigt. Aber dann stand ich vor den Trauben und las die Schilder und Etikette aufmerksam und ich las Chile, Indien…Indien, Chile…Chile, Indien…Indien, Chile…klar, dachte ich: wir haben nicht September, Oktober oder November, also Herbstzeit, Zeit der Weinlese, sondern Frühling. Deutsche, französische oder italienische Trauben kann ich da nicht erwarten. Und im selben Moment erschrak ich über mich selbst. Und dachte nur: was für eine verkehrte Welt! Im wahrsten Sinne des Wortes! Trauben aus dem anderen Erdteil der Welt. Nein, das will und kann ich nicht unterstützen. Wie gedankenlos ich doch bin! Nur weil wir meinen, Trauben müsste es immer geben, bleiben Menschen in Indien und Chile auf der Strecke. Jeder kann sich mal ausrechnen, wie teuer die Trauben bei uns eigentlich sein müssten, wenn wir denen auch nur einen halbwegs angemessenen Lohn zahlen wollten oder müssten. Und nur weil wir meinen, Trauben müsste es immer geben und wir können sie überall produzieren und verkaufen, bleibt unsere Umwelt auf der Strecke. Oder von welchen Ressourcen und auf welche Kosten geht wohl der ewige Transport um die halbe Erdkugel. Und wie verhängnisvoll die flugzeuggesteuerte Eroberung und Bemächtigung der Welt ist, erleben wir ja nun besonders in Corona-Zeiten.
Ich legte die Weintrauben wieder zurück, die ich gerade in den Händen hielt. Dann holte ich mir zum Trost eine Tüte Weingummi.
Und dann dachte ich: „Nichts bleibt, wenn wir Gottes Gebote nicht achten. Und die Gebote sind ja nichts anderes als Lebensweisung. Sie helfen uns zum Leben, zum Teilen und Ordnen des Lebens so, dass alle gut und lange leben können, bleiben können.“ Das war ein Fingerzeig Gottes, dass ich verstehe, was Jesus mit den Worten meinte: „Bleibet in mir“ – das heißt: „Bleibet in meiner Liebe“. Zwei Zeilen weiter fügt er nämlich hinzu: „Wenn Ihr meine Gebote haltet, so bleibt Ihr in meiner Liebe.“
Das Bleibende ist also da, wo wir Gottes Gebote halten, Leben achten, für das Leben Anderer und unser zukünftiges gemeinsames Überleben eintreten. Da ist das Bleibende – die bleibende Liebe, die Bleiben ermöglicht und Leben nicht zerstört.
Diese Liebe Christi ist immer schon da. Die müssen wir nichts vorweisen oder beweisen. Auf diesen Gedanken komme ich nun noch einmal zurück, denn das war dann mein zweiter Gedanke im Supermarkt: „Was brauchst Du dieses Anschauungsmaterial? Was willst Du da beweisen oder vorweisen! Es ist schon alles da. Gottes Wort, Jesu Wort reicht doch völlig aus. Was soll der ganze Zauber! Das ganze äußere Gedöns! Anschauungsmaterial? Ein Bild davon im Netz? Gut gemeint, aber völlig überflüssig. Und so erschloss sich mir das Wort aus dem Johannesevangelium von neuem: „Ich bin der wahre Weinstock, und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, daß sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.“ Und hier setzt für mich die notwendige andere Lesart ein. Hier werden nicht irgendwelche Menschen aussortiert oder bleiben auf der Strecke. Die weggeworfenen oder aussortierten Reben sind nicht Menschen.
Wir würden damit das Bild überfrachten. Was hier mit dem Bildwort lediglich beschrieben werden soll ist der Veredlungsprozess – wie also der Weinbauer, der im Bild für Gott steht bemüht belibt und dafür sorgt, dass das Wort Gottes Frucht trägt, dass die Frohe Botschaft für Menschen zu einer greifbaren, erfahrbaren Wirklichkeit.
Und wir sollten in diesem Gleichnis tatsächlich zur Kenntnis nehmen, dass wir hier unter den Christen keineswegs noch mal aussortiert wird, wer jetzt der bessere oder frömmere der schlechtere ist. Darauf zielt das Gleichnis, dessen sich viele frömmelnde oder sektiererische Gruppen und Kirchen gerne bedienen, gerade nicht. Unter den Erlesenen wird nicht noch mal aussortiert. Es gibt da keine wahren Kirchen oder wahre Christen. Vielmehr ist allen ohne Unterschied zugesagt:
„. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.“ sagt Jesus. Auf gut deutsch: Niemand muss fürchten, auf der Strecke zu bleiben, aus der Gemeinschaft der Christen herauszufallen oder ausgeschlossen zu werden. Wir sind schon rein. Ich muss keine reine Weste vorweisen, bevor oder damit ich zum lieben Gott gehen darf. Ich bin schon durch seine Liebe angenommen und gewollt. Wir haben das Wort Gottes schon empfangen. Aus dem leben wir. Das ist unsere Quelle und das wird weiter Frucht tragen. Damit reinigt Gott seinen Weinstock, nicht mit Ausschließung vom Abendmahl oder Höllenstrafen, sondern mit seinem Geist, mit seinem Liebesmühen, uns sein Wort nahe zu bringen und es fruchtbar zu machen. Diesem Liebesmühen bleiben wir alle in gleicher Weise als Reben an dem einen Weinstock ausgesetzt. Da ist keiner näher oder weiter von der Gnade Gottes entfernt.
Wir leben aus dem Wort Gottes, das wir schon längst empfangen haben. Wir sind so gesehen schon längst Erlesene.
Wir leben aus Gottes Wort und wir leben zugleich aus der Liebe Christi, die uns längst voraus gegangen ist. Er ist der Weinstock und wir sind die Reben. Nicht umgekehrt!
In einer schweizerischen Kirche gibt es ein Kreuz, an dem Jesus ohne Arme und Füße hängt. Darunter steht: „Ich habe keine Hände mehr; Ihr seid jetzt meine Hände, die ihr anderen Menschen reichen sollt. Ich habe keine Füße mehr: ihr seid jetzt meine Füße. Geht zu anderen und erzählt von mir….“ Da ist zwar etwas Wahres dran. Menschen geben den Glauben weiter. Über die erfahren wir von Gott und Christus. Aber Christus lebt nicht aus uns, nicht aus unseren Händen, sondern wir aus ihm. Es bleiben letztlich seine Hände und Füße, die da handeln und unterwegs sind, sich also unserer Hände und Füße nur bedienen, ja und sich manchmal sogar unseren Händen und Füßen entgegenstellen.
Wenn eines bleibt bei allem, was nicht bleibt, dann ist es der Weinstock selbst. Die Reben können nichts aus eigener Kraft. Wir sind zuallererst, so wie wir sind, von Gott ausgestattet, in Christus angenommen und geliebt. Er ist der wahre Weinstock. Wir müssen uns und ihm nichts beweisen. Ob wir alt oder jung sind, gebrechlich oder kräftig, unbeweglich oder dynamisch. Wo droht dass nichts mehr bleibt, bleibt doch seine Liebe, weil sie zuallererst da war und uns hält und trägt mit allen Unvollkommenheiten, allen Krankheiten, allen Eitelkeiten und allen Verrücktheiten.
Der Mensch bleibt nicht auf der Strecke, sondern an und durch und in Christus. Er bleibt an und durch Gottes Liebe.
Können wir denn von uns aus etwas tun, um zu bleiben? Ja, auf diesen Gott und diesen Christus vertrauen, hören, was das Wort Gottes für unser Leben bedeuten kann.
Wir brauchen nur an diesem Wort Gottes bleiben, es in uns bewahren, damit es weiter Frucht trägt und so bleiben wir. So bleibt nicht alles beim Alten, aber wir bleiben. Manches wird neu – hoffentlich auch nach Corona. Ich gehöre nicht zu denen, die sich das Leben wirklich in allem genauso zurück wünschen wie vor Corona. Manches wird sich hoffentlich ändern, wenn unser Vertrauen auf das Wort Gottes siegt über die anderen selbstgemachten Götter und viele Ideologien unserer Gesellschaft, die nicht menschendienlich. sondern –schädlich sind.
Auf Gott vertrauen und aus seinem Wort, wie es uns in Christus begegnet ist, leben, dass es Frucht bringt, ist nicht schwer. Einmal am Tag, und sei es im Supermarkt oder beim Glockenläuten oder beim Zubettgehen an Gottes Wort denken. Oder mit Freunden anfangen, mal gemeinsam die Bibel zu lesen und sich darüber auszutauschen und auch Erklärungshilfen zu nutzen.
Oder auch mal wieder in die Kirche gehen und Impulse für mein Leben empfangen. Das wird Corona-bedingt erst wieder am nächsten Sonntag möglich sein und unter bestimmten Auflagen. Aber wir können da sinnlich erfahren, dass wir alle zum selben Weinstock gehören und an ihm bleiben. All dies wird uns zum Leben und Überleben helfen – kurz zum Bleiben, ohne Stehen zu bleiben.

Amen