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Predigt Karfreitag 15.04.2022 in der Versöhnungskirche Rath-Heumar

(gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel am Karfreitag, 15.04.2022)

Gnade und Friede sei mit uns allen von Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen

„Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus – nicht mehr wie ein Mensch – seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten.

Er sah nicht aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet. Abschätzig begegneten wir ihm.

Doch er hat in Wahrheit unsre Krankheit getragen und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir meinten aber, er sei von Gott selbst geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unseres Versagens zerschlagen. Damit wir Frieden hätten, lag die Strafe auf ihm. Durch seine Wunden sind wir geheilt. Wir hatten uns alle verirrt wie die Schafe. Ein jeder achtete nur auf seinen eigenen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen. Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.

Durch Gericht und Haft wurde er dahingerafft, doch wen kümmert sein Geschick?

Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und von der Schuld meines Volkes geschlagen. Bei den Gottlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hatte und kein trügerisches Wort in seinem Munde war.“

Liebe Schwestern und Brüder in Christus, soweit zunächst einmal diese Zeilen. Ich habe nicht etwa gelesen aus einem aktuellen Bericht von Amnesty International über einen der vielen heutigen politischen Gefangenen, die unschuldig gefangen sind und zu Tode gefoltert werden. Ich habe auch nicht aus einem Augenzeugenbericht eines der Jünger Jesu aus dem Neuen Testament gelesen, sondern aus dem Prophetenbuch Jesaja, Kap. 52 und 53, dem vierten der sogenannten Gottesknechtslieder.

Sie sind entstanden, als das Volk Israel zum wiederholten Male im Exil in Gefangenschaft geriet – verschleppt, würde man wohl heute sagen – diesmal in Babylonien. Zwischen 550 und 539 vor Christus, also lange Zeit vor Christus! Sie sind Ausdruck einer messianischen Hoffnung, also der Hoffnung auf eine von Gott gesandte Erlösungsgestalt. Das klang eben nur minimal zwischen den Zeilen an. Denn nur für sich genommen klingen die ja alles andere als positiv. Die folgenden Verse lesen wir aber auch dort:

„Jetzt aber versetzt er viele Völker in Staunen. Könige müssen vor ihm verstummen. Denn was man ihnen noch nie erzählt hatte, das sehen sie nun. Und was sie zuvor noch nie gehört hatten, das erfahren sie nun.“ Und wenige Zeilen weiter: „Der Herr hielt zu seinem zerschlagenen Knecht. Der sein Leben zum Schuldopfer gegeben hatte, wird Nachkommen sehen und lange leben. Das Vorhaben Gottes wird durch ihn gelingen. Nachdem er so vieles ertrug, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, für viele Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Verfehlungen.“

Hier und in den Zeilen zuvor hören wir davon, dass durch den Weg des Leids dieses Gottesknechtes hindurch, schließlich Frieden, Licht und Gerechtigkeit kommen soll.Es ist umstritten, auf wen sich die Aussagen im Buch Jesaja bezogen hatten. War mit der Knechtsgestalt der damalige Prophet selbst gemeint?  Oder war etwa das ganze leidende Volk Israel gemeint? Oder war ein ganz anderer, aber unmittelbar ersehnter Messias gemeint? All das bleibt unklar. Klar ist, dass Jesus damals überhaupt nicht im Blick war.

Aber all diese Dinge, die wir bei Jesaja vorfinden, haben wir Christen später in Bezug zu Jesus gesetzt. Völlig legitim, denn hier bei Jesaja hören wir zum ersten Mal von einer Messiasgestalt, die leidet. Ein Gesalbter, ein König, ein Retter, der nicht mit Macht einherschreitet und alles Andere darniederwälzt, sondern eine Königs- und Rettergestalt, die an der Macht der Mächtigen leidet. Ein König, der mitleidet und leidensfähig ist, ja, der alles Leid seines Volkes auf sich nimmt, wie es im Text heißt. Eine ganze andere Herrschaftserfahrung also. Denn für gewöhnlich sind ja die Herrschenden  diejenigen, die das Leid des Volkes verursachen, wie man in der jüngsten deutschen Geschichte und auch den aktuellen Ereignissen in der Ukraine oder andernorts sehen kann.

 

Diese Solidarität, wie sie hier im Gottesknechtslied entfaltet ist, beschreibt letztlich die Solidarität Gottes mit uns Menschen. Das ist das, was wir in diesen Versen erblicken können wie eben auch am Kreuz Jesu.

Unser Leben hat Schatten- und Lichtseiten. Das Kreuz würde man wohl am ehesten mit den Schattenseiten des Lebens verbinden, aber wir werden sehen, dass es in Wirklichkeit viel Licht spendet. Und manchmal muss das Kreuz auch unser Leben durchkreuzen, also in Frage stellen, um uns zu einem Leben im Licht hinzuführen.

Damit wir uns das richtig vergegenwärtigen können, möchte ich noch mal an ein paar ausgewählten Versen des Textes mit Euch entlanggehen:

„Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut.“

Ich glaube, die damalige Knechtsgestalt des Propheten oder auch Jesus würde heute ebenso wenig wahr- oder ernst genommen wie in seiner Zeit. In einer Gesellschaft, die so sehr auf das Haben und die äußere Gestalt bedacht ist, wird auch heute noch alles, was anders ist, ignoriert und alles, was stören mag, ausgeblendet und verdrängt. Schmerzen und Krankheit passt nicht in eine Gesellschaft, deren Ideal nicht etwa die Liebe zum menschlichen Körper darstellt, sondern die Perfektion, Vergöttlichung und Anbetung des menschlichen Körpers. Schmerzen und Krankheit passen auch nicht in die Betriebsamkeit der heutigen Gesellschaft, die nur einen Störfaktor für die hemmungslose Profitgier darstellen, der alles und jedes geopfert wird. Wenn schon der Mensch kaum noch im Mittelpunkt des Wirtschaftens steht, wie sollten dann erst seine Schmerzen und Krankheit wahrgenommen werden!?

Aber gerade deshalb werden immer mehr Menschen krank und haben Schmerzen.

Schön, reich, erfolgreich – wer möchte nicht so sein!? Gerade, wenn der Wert eines Menschen oft doch nur all zu sehr darauf allein reduziert wird?

Und doch ist zum Beispiel das Alter und die Notwendigkeit der Pflege gebrechlicher oder dementer Menschen eine knallharte Wirklichkeit in unserer heutigen Welt. Und viele Menschen werden damit immer noch zu sehr allein gelassen. Es wird mehr Geld in die Erforschung einer Maschine investiert, die drei Sekunden mehr Wettbewerbsvorteil vor Betrieben anderer Länder verspricht, als in die Erforschung der Frage, wie wir künftig mit all diesen Krankheiten und Schmerzen leben können.

„Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut.“ Hier ist die Erfahrung von Menschen angesprochen, wie ich sie selbst oft hinter den Türen in Rath-Heumar oder andernorts antreffe. Ihre Unbeweglichkeit, ihre Krankheit isoliert sie und sie werden zunehmend von Anderen nicht mehr wahrgenommen, ja förmlich vergessen. Denn sie sind ja wie von der Bildfläche verschwunden. Früher sah man sie noch in der Kneipe, beim Einkaufen oder in der Kirche. Einen Trost haben diese Menschen: Dem Gottesknecht, ja, Jesus selbst, ist es auch so ergangen. In ihm kann ich mich wiederfinden – ein Mann voller Schmerzen und mit dem Krankhaften und Krankmachenden unserer Gesellschaft beladen. Von ihm heißt es: „Er hat in Wahrheit unsre Krankheit getragen und lud auf sich unsre Schmerzen“. Ich bin mit meinem Schmerz und meiner Krankheit nicht so allein wie viele Menschen, die nie Krankheit und Schmerzen kannten, aber sich besinnungslos betäuben durch Arbeit, Konsum und Erlebnissucht. Ich habe einen, der bei mir ist, weil er den Schmerz, Krankheit, Alleinsein und Leid kennt. Ich habe Gott selbst, der eben genau darin bei mir ist, wie kein Anderer. Mit meinen Schmerzen und meiner Krankheit bin ich bei ihm aufgehoben. Und ich denke an manche meiner Kollegen oder auch an Menschen in anderen Berufen, die unter Burn out und Depressionen leiden – ernsthafte psychische Erkrankungen. Auch sie sind bei ihm aufgehoben. Viele mögen das verdrängen und nicht verstehen, nicht wahrhaben wollen, was solch eine Krankheit bedeutet und wie krank unsere Gesellschaft ist – eine Gesellschaft von Menschen, die Zustände schaffen oder heiligen, die viele dieser Krankheiten erst produziert – aber einer versteht mich, der selbst Unsägliches erlitten hat – dieser gekreuzigte Christus und auch sein liebevoller Vater, der mit ihm gelitten hat, ja, der daran und darin selbst gelitten hat. Die anderen mögen mich „Psycho“ nennen, weil ich im Augenblick nicht nach ihrer Norm ticke, aber Gott versteht mich. Es ist als ob sein Kreuz mir Schatten spenden würde. Im Schatten seines Kreuzes sehe ich mein eigenes Kreuz, aber bin doch damit gerade bei hm angenommen und geborgen.

„Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet. Abschätzig begegneten wir ihm“, so heißt es bei Jesaja. Und ich muss an die Bilder denken, die wir hier an der Wand im Hintergrund sehen. „Die sind doch richtig hässlich, Herr Wenzel. Was soll ich mir solche Bilder angucken, wenn ich hier in der Kirche bin!?. Was für ein Glück, dass die nur in der Passionszeit da hängen!“

Liebe Schwestern und Brüder in Christus, wir mögen das Gesicht gern verhüllen vor dem, was hässlich ist in unserer Welt. Wir mögen gern hinwegschauen, so wie damals bei Jesus so viele Menschen weggeschaut haben und auch heute den Anblick dieser Bilder nicht ertragen können, aber wir sollten dabei bedenken, dass Gott uns gerade hier, gerade im Leid, im Hässlichen, im Schrecklichen begegnet und uns etwas sagen will: Halte diesem Anblick stand und lass dich davon berühren! Führe dein Leben so, dass niemand mehr gekreuzigt wird. Nicht in deiner Familie, nicht in deiner Nachbarschaft, nicht in deinem Land und nicht unter den Völkern dieser Erde. Führe dein Leben in Zuversicht und Hoffnung, ja mit Freude als ein Geschöpf Gottes, aber so, dass Du die Rufe der heute Gekreuzigten nicht überhörst.

 

„Wir meinten aber, er sei von Gott selbst geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unseres Versagens zerschlagen. Damit wir Frieden hätten, lag die Strafe auf ihm. Durch seine Wunden sind wir geheilt.“

Wir entdecken in diesen Versen das, was die tiefe Erkenntnis des Kreuzes ist, wenn wir es anschauen. Ganz deutlich ist hier ausgesprochen: Das Kreuz hat nicht Gott aufgerichtet, das von Menschen verübte Leid wie auch das Kreuz Jesu selbst kommt nicht von Gott her, sondern von den Menschen. Die Menschen sind es, die Leid herbeiführen. Sie sind diejenigen, die Ängste verbreiten und schüren, um Kriege führen zu können, die Vorwände suchen, um Gewalt auszuüben. Sie haben in ihrer Verantwortung und in ihrem Verhalten versagt und Schuld auf sich geladen, nicht Gott. Damals zur Zeit der Römer, aber auch im Mittelalter zur Zeit der Kreuzzüge, oder im sogenannten Dritten Reich oder wie jetzt in der Ukraine. Gewalt und Krieg ist immer wieder von Menschen gemacht und nicht von Gott.

Deshalb ist auch all das theologische Geschwätz von einem Heilsplan Gottes, durch den er von Anfang an beabsichtigt habe, Jesus ans Kreuz zu liefern, völlig fehl am Platze. Das wäre tatsächlich ein Sadismus Gottes, wie er von Religionskritikern zu Recht kritisiert würde.  Manche behaupten ja tatsächlich, dass das Kreuz ein Symbol eines sadistischen Gottes wäre. Was für ein Unsinn. Das Kreuz war eine römische Todesstrafe, genauso wie das Gas in den KZ’s von Menschen erfunden und angewendet worden ist.

Das Kreuz Christi ist kein Symbol eines sadistischen, sondern eines solidarischen Gottes. Es spendet vielmehr denen Schatten, die sich selbst als gekreuzigt erleben. Und es spendet auch Licht. Ja, es führt zum Licht. Aber nicht im Sinne eines Heilsplanes, bei dem Gott über Leichen gehen würde.

 

Chor: „Der Weg der Liebe“

 

Wir, die Menschen kreuzigen. Wir sind und bleiben die Verursacher. Wir fügen Menschen Leid zu – nicht Gott! Aber gerade weil wir dies von Anbeginn unserer Menschheitsgeschichte tun, hat Jesus an uns gelitten, mit uns gelitten und schließlich für uns gelitten und ist für uns in den Tod gegangen, damit wir schließlich mit Erschrecken erkennen, wer wir sind und fortan keinen Menschen mehr kreuzigen. Der Leidensweg schenkt uns auf diese Weise in der Tat Frieden, aber nicht durch einen sadistischen Gottesplan und auch nicht durch eine platte Glaubensformel, die im Chemielabor Gottes entstanden wäre, nach dem Motto: der Mensch hat gesündigt und Jesus musste für die Sünde sterben – Jesus als Opferpille. Der Friede, den Gott bei uns Menschen erreichen will, kommt vielmehr nur durch unser Erschrecken und Erkennen – durch unsere Umkehr. Und deshalb sind wir auch heute auf einem problematischen Weg, wo die einst friedensbewegten Grünen-Politiker hoch emotionalisiert und zugleich vollster Überzeugung, dass das der Königsweg sei, die Lieferung schwerer Waffen fordern und nur noch diese Waffenlieferungen für die Ukraine als Lösung der Konfliktbewältigung sehen. Das ist der alte Weg, den die Menschheit immer wieder eingeschlagen hat, seit Kain den Abel erschlug und der sich auch nur deshalb wiederholt, weil die Menschheit immer nur ihn als Lösung favorisiert hat. Aber schon damals hat Gott die Gewaltkette durchbrechen wollen, indem er Kain ein Schutzzeichen auferlegte. So erzählt es die Sage von Kain und Abel. Und dann hat er uns zu alledem auch noch eines der zehn Gebote gegeben, wo geschrieben steht: „Du sollst nicht töten“. Die Zielrichtung Gottes ist auf jeden Fall ganz anders als die der Menschen und ihrer Panzer.

 

Wo ist auf einmal die Taube hin, die eben noch die Fahnen der Friedensdemonstranten auf den Friedensdemos der Achtziger Jahre und bis heute auf den Ostermärschen geziert hat? Werden die beim kommenden Ostermarsch nun durch die mittlerweile sehr verbreiteten blau-gelben Nationalfarben ersetzt? Wo ist nun die Taube hin? Die Taube symbolisiert bekanntlich den Heiligen Geist. Wir könnten auch fragen: Wo ist der Geist der Taube hin? Er scheint wie weggeflogen. Sollte der Heilige Geist uns etwa verlassen haben? Sind wir vielleicht von allen guten Geistern verlassen?

Ich habe keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen und keine Rezepte, die vom Himmel fallen. Ich weiß nur, dass wir uns diese Fragen stellen müssen und es eine Katastrophe wäre, wenn die Taube uns verlässt oder tot vom Himmel fällt. Spätestens dann merken wir, dass wir nichts dazu lernen wollten und all unsere Friedenspädagogik und so weiter nur halbherzig war.

Ich komme schließlich zu dem, was das eigentliche Vorhaben Gottes ist:  das Kreuz soll zum Licht führen oder besser: „durch das Kreuz hindurch will Gott zum Licht führen“ könnte man sagen. So wird es bei Jesaja umschrieben: „Das Vorhaben Gottes wird durch ihn gelingen. Nachdem er so vieles ertrug, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, für viele Gerechtigkeit schaffen.“

Das Vorhaben, besser die Absicht Gottes im Blick auf uns Menschen, ist gerade nicht die Schaffung von Leid. Er hat das Leid und den Tod Jesu nicht herbeigeführt, sondern sein Ansinnen, sein Ziel mit uns Menschen ist Frieden und Gerechtigkeit. Gerechtigkeit für viele, wie es hier im Text heißt und eben nicht für Wenige.

In einem auf sich bezogenen Wort hat Jesus das einmal einmal sehr bildhaft ausgedrückt:  „Wenn das Weizenkorn, das in die Erde fällt, nicht stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, trägt es viel Frucht.“ Jesus hat damit beschrieben, dass sein Leid und sein Tod nicht der Ziel- und Endpunkt sind, sondern dass die Liebe darüber hinaus geht und Frucht trägt. Das Kennzeichen jeder Liebe ist Hingabe. Sein Leben, Leiden und Sterben hat Menschen zusammengeführt – nicht automatisch, weil das vom Himmel gefallen wäre, sondern weil er die Liebe Gottes gelebt hat, weil er so gelebt hat, wie er gelebt hat – hingebungsvoll. Jesu Hingabe bestellte den Acker der Zukunft. So dürfen wir darauf vertrauen, dass sich diese Liebe nicht verliert und ans Kreuz genagelt bleibt, sondern auch unter uns heute weiterlebt und Blüten treibt. Das ist das eigentliche Ziel Gottes mit uns Menschen, dass diese Liebe weiterlebt, in allem Leid, in allem Tod und über alles Leid und alle Gewalt und allen Tod hinaus.

Und das möchte ich an zwei kleinen Beispielen deutlich machen, wie das Kreuz nicht nur Schatten für die Betroffenen spendet – davon sprach ich ja bereits ausgiebig, sondern auch wie es Licht spenden kann, ja zum Licht für viele werden kann – einfach Hoffnung gibt.

Titus Brandsma wird im Mai vom Papst heilig gesprochen  und vielleicht brauchen wir solche Heiligsprechungen tatsächlich, um daran erinnert zu werden, dass wir alle den Auftrag Gottes in uns tragen, diese Welt zu heiligen, sie mit Licht zu erfüllen, insbesondere in Zeiten wo die Gewalt und Krieg zur Normalität zu werden droht. Titus Brandsma war ein dem Karmeliterorden angehöriger niederländischer katholischer Pater und Philosophieprofessor, der im KZ Dachau ermordet wurde. Er ist bereist selig gesprochen worden, weil er als Märtyrer gestorben ist. Heiligsprechungen erfolgen von Rom aus dann, wenn die Betreffenden auch ein Wunder vollbracht haben. Und das kann wohl im Fall von Titus Brandsma nachgewiesen werden.

Der kluge, gebildete, vielseitig begabte Mann der Kirche durchschaute sehr früh schon die Gefährlichkeit des in Deutschland an die Macht gekommenen Nationalsozialismus. Er war zum geistlichen Ratgeber der Mitarbeiter von mehr als dreißig katholischen Zeitungen ernannt worden. Sowohl sein Orden als auch ein ganzer Teil dieser Zeitungen hatten internationalen Charakter. Deshalb machte er auch in Deutschland Vortragsreisen, wo er mit dem Nationalsozialismus schon frühzeitig in Berührung gekommen war.

In Holland wie in Deutschland hatten seine Vorträge, die den Nationalsozialismus kritisierten immer dieselben Kernelemente: Wert und Würde eines jeden einzelnen Menschen, gesund oder krank ist als von Gott gegeben zu achten. Die Gleichberechtigung und der ethische Wert einer jeden Rasse sind zu achten; so wie der Wert der menschlichen Würde gegenüber jeglicher Ideologie. Und er hob hervor die Gegenwart und Führung Gottes in der Menschheitsgeschichte im Gegensatz zu politischem Messianismus und jeglicher Vergöttlichung von Macht. Als im Mai 1940 die deutschen Truppen die Niederlande besetzten, erwies sich P. Titus Brandsma sogleich als unerschrockener, mutiger Verteidiger der katholischen Kirche und ihrer Einrichtungen.  Er gehörte zum katholischen Widerstand, deren Priester, verkündeten allen Unterstützern des nationalsozialistischen Regimes die Sakramente zu verweigern. Als die Bischöfe der katholischen Kirche es ablehnten, NS-Propaganda in ihren Zeitungen abzudrucken, entschloss er sich jedem katholischen Zeitungsschreiber diese Anweisung der Bischöfe persönlich zu übergeben. Nachdem er 14 Schreiber erreicht hatte, wurde er am 19. Januar 1942 auf Veranlassung des Reichskommissariats im Kloster Boxmeer gefasst und als „rotgesinnter politischer Häftling“ zunächst im Gefängnis in Haft gehalten und verhört, bevor der dann nach Dachau verschleppt wurde. Unter Zwangsarbeit, Folter, Misshandlung und Unterernährung verschlechterte sich seine Gesundheit rapide. In der dritten Juliwoche wurde er in die Krankenstation des Konzentrationslagers eingewiesen. Dort führte ein KZ-Arzt mit ihm medizinische Experimente durch und ließ ihm schließlich die Todesspritze verabreichen. Soweit die Fakten. Was war nun das Wunder, das er verrichtet haben soll und Grundlage für die Heiligsprechung im Mai ist?

Die Frau, die ihm auf Befehl des Arztes die Spritze verabreichte, bekehrte sich danach, weil die Erinnerung an ihn sie nicht mehr losließ. Sie arbeitete als Krankenschwester, gehorchte aber aus Angst den unmenschlichen Befehlen des Arztes. Sie berichtete später dass er „bei seiner Ankunft in der Krankenabteilung schon auf der Todesliste“ stand und ebenso von den Versuchen, die mit den Kranken gemacht wurden, und wie sie in ihrem Innersten, ohne dass sie es wollte, von den Worten getroffen wurde, mit denen er die Misshandlungen ertrug und es sie ebenso bewegte, als er die, die gehasst wurde und sich selbst dafür hasste, was sie da tun musste,  einmal bei der Hand und sprach: „Was bist du für ein armes Mädchen, ich bete für dich!“ Der KZ-Arzt nannte jene Spritze sarkastisch die „Gnadenspritze“. Und siehe, während die Schwester sie ihm gab, war es die Fürbitte des von Pater Titus, die ihr die Gnade Gottes nahe brachte. Beim damaligen Seligsprechungsprozess bezeugte sie, dass das Antlitz dieses alten Priesters sich für immer in ihr Gedächtnis eingeprägt hatte, weil sie in ihm etwas gelesen hatte, das sie nie gekannt hatte. Sie sagt schlicht: „Er hatte Erbarmen mit mir!“

Menschen kehren um. Das ist das Licht, das vom Kreuz ausgeht, so wie es auch damals der römische Hauptmann bei Jesu Kreuzigung tat, als der Vorhang im Tempel zerriss und er sprach: „Das war wahrlich Gottes Sohn“.

Das zweite Beispiel für solches Licht. Ich sprach vorhin von den Kranken, die wir oft aus dem Blick verlieren. Auch in der Gemeinde passiert es, dass Menschen, die regelmäßig zur Mitte der Gemeinde gehörten und regelmäßig auch an den Gottesdiensten teilgenommen haben, aufeinmal wegbleiben, weil Krankheit sie dazu zwingt. Dazu gehört auch das Ehepaar Sterker. Ich kein sie von den Gottesdiensten in Ostheim seit nun schon fast zwanzig Jahren.  Seit etwa 2018 wurde bei Frau Sterker Altzheimer diagnostiziert und die beiden mussten dieses Kreuz auf sich nehmen. Irgendwann war die Teilnahme am Gottesdienst nicht mehr möglich und dann kam auch Corona. Immer hatte ich vor, die beiden mal zu besuchen, mit denen ich auch einen Gottesdienst zu ihrer Goldenen Hochzeit gefeiert hatte, obwohl Ostheim ja gar nicht der Bezirk ist, für den ich zuständig bin. Aber es kam nicht dazu. Herrn Sterker traf ich einmal zufällig, ließ mir die Telefonnummer geben, aber den Besuch hatte ich nicht umgesetzt. Gestern hatte ich die Trauerfeier der verstorbenen Frau Sterker durchgeführt. Als ich mit einer der Töchter anschließend sprach, sagte ich ihr noch mal, wie wahnsinnig leid es mir täte, dass ich die beiden in dieser für sie schweren Zeit nicht besucht hatte, weil sich immer wieder etwas Anderes in den Vordergrund geschoben habe. Die Tochter merkte, wie ich sichtlich traurig darüber war und wie mich da ein schlechtes Gefühl quälte. Und in dem Moment sagte sie mit strahlender Miene das Befreiende: „Wissen Sie was Herr Wenzel. Meine Mutter war auch so mit Ihnen verbunden. Sie hat auch jetzt noch aus dem gelebt, was sie ihr in den Gottesdiensten mitgegeben hatten. Ich bin sicher, gerade diese tiefe Verbindung hat beide in der schweren Zeit sehr getragen.“

Die Antwort der Tochter hat mich zutiefst berührt und hat mich getröstet und fröhlich gemacht, zeigt sie doch, dass Gottes Licht durch das Kreuz hindurchscheint und auch dann am Werke ist, wenn wir selbst es nicht meinen oder nie damit gerechnet hätten. Das Licht Gottes bleibt unberechenbar. Amen