Lukas 6, 36-42
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37
Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.
Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt.
Vergebt, so wird euch vergeben.
38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis:
Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?
40 Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.
41 Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr?
42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge?
Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.
PREDIGT zu Lukas 6,36 – 42 (Jahreslosung 2021)
Die Gnade Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. AMEN
Liebe Gemeinde!
Zu den Auflagen, die wir für die Durchführung von Gottesdiensten derzeit haben, gehört es, sie nicht länger als 45 min stattfinden zu lassen, sie kontaktarm und nachvollziehbar durchzuführen.
Die zeitliche Beschränkung (sonst liegen wir fast immer bei 60 min), ist schon mal eine Herausforderung, denn automatisch müssen wir straffen, kürzen und verzichten bei dem, was an liturgischen und freien Worten, an liturgischen Handlungen und an der Musik stattfindet. Eine Herausforderung, über welche manche sogar sagen: Das tut den Kirchen, tut uns gut.
Am Anfang eines neuen Jahres eine Herausforderung, die mir angesichts der Aufgabe, etwas über die neue Jahreslosung zu sagen, besonders auffällt. Zu meinen üblichen Gewohnheiten gehörte es, diese ausführlich biblisch beleuchtet, mit einem Bild interpretiert und durch einen eigens komponierten Kanon zur Jahreslosung in unser Jahr einzuführen.
Für die Jahreslosung „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ hatte ich tatsächlich schon gesammelt. Melodien, Kanons und Lieder. Biblische Zitate. Weisheiten und Historisches.
Ganz schön schwer, sich ausgerechnet beim „barmherzig sein“ beschränken zu müssen.
Aber vielleicht ist es das ja gar nicht. Sondern vielmehr: sich fokussieren.
Was soll dieses Wort?
Wo kommt es her und in welchen Kontext ist es damals wie heute gesprochen?
Was macht es mit einem persönlich und mit der Kirche im Allgemeinen und Besonderen?
Was sollen wir mit dieser Jahreslosung in 2021 erleben?
Den Kontext unserer Jahreslosung können Sie im Bibeltext s.o. lesen.
Allein das ist eine Zusammenstellung biblischer Worte, die uns ausführlicher beschäftigen könnte. Davon ist die Redewendung mit dem Splitter und Balken im Auge wohl die bekannteste Textstelle. Die verwickeltste und schönste für mich dabei:
Wir kriegen was geschenkt, uns fällt etwas in den Schoß. Ein gutes Maß. Und wenn unser Schoß schon voll zu sein scheint, wird noch mal gerüttelt und geschüttelt, gestopft, dass noch etwas reingeht, bis es überquillt.
Und was wir bekommen?
Die Fähigkeit, Möglichkeit und den Auftrag, barmherzig zu sein – oder wie man es auch übersetzen könnte: barmherzig zu werden.
In Sachen Barmherzigkeit wird uns Gott als Maß oder Maßstab genannt. An ihm sollen wir uns orientieren, vielleicht nicht gerade an ihm messen. Das würde ich mir nicht zutrauen, wenngleich ich ja auch weiß, dass Gott quasi in der Bibel auch schon mal an seiner eigenen Barmherzigkeit scheitert, Menschen doch nicht zur Umkehr ihres Lebenswandels und ihrer Glaubensausübung motivieren kann und nicht alles Unheil abwenden kann für Schuldig gewordene, aber auch für unschuldige Menschen.
Es tut mir gut, mich dessen nochmal zu vergewissern – damit ich z.B. nicht in Gedanken über die unzähligen Covid-Toten feststecke, warum sie haben sterben müssen und sollen.
Gott ist barmherzig.
Das soll uns klar werden. Die Bibel gibt sich redlich Mühe, dies zu tun. Der Begriff wird im Neuen Testament geprägt. Daher kommt er aus dem griechischen, eleos (Mitleid, Erbarmen, Barmherzigkeit) oder eleao (gnädig sein, begnadigen).
Im Neuen Testament kommt das an 30 Stellen vor. Aber auch im Alten Testament findet sich das für eleos entsprechende Wort, das eben dann in hebräisch chäsäd lautet, Güte.
Sowohl im Alten Testament wie auch im Neuen Testament ist barmherzig sein etwas, das Gott dem Menschen zur Aufgabe macht. Und deutlich sagt: das ist kein Opfer und kein Zwang, sondern barmherzig sein gehört zum gelebten Glauben.
Wer an Gott glaubt und sich von Jesus Christus leiten lässt, der kann dies nicht nur theoretisch, wissenschaftlich, im Kopf.
Dessen Herz wird angerührt, dessen Fantasie angeregt, der empfindet Mitleid. Barmherzig sein, dass lässt uns genau hinhören und hinsehen, mitfühlen und mitdenken, aber auch in der Kraft unserer Füße mitgehen und in der Kraft unserer Hände etwas tun.
Das hat ganz sicher auch die Darstellung des Lesezeichens angeregt, welches Sie auf Ihrem Platz vorgefunden haben. Mir hat dieses Motiv gefallen, deshalb habe ich es ausgesucht. Es war mir nicht unbekannt, dieser Baum mit den vielen Händen, großen und kleinen, in allen Farben, rechte Hände, linke Hände. Immer einzelne Hände, niemals Handpaare. Interessanterweise findet sich so ein Motiv durchaus in mehreren Religionen. Manchmal ist es so dargestellt, dass der Stamm des Baumes bereits zwei aus dem Wurzelwerk der Erde nach oben gerichtete Arme und Hände sind, über die dann das bunte Blätterwerk aus Händen sich spannt.
Nocheinmal kurz zurück zum Begriff der Barmherzigkeit in der Bibel:
Sie wird immer dann verwendet, wenn :
– Jesus den Menschen gegenüber barmherzig ist,
– Gott den Menschen gegenüber barmherzig ist,
– Menschen gegenüber anderen Menschen barmherzig sind,
– oder über Gottes Barmherzigkeit voller Lob gesungen, gespielt, gedankt wird (u.a. wird auch in der Schöpfung die Barmherzigkeit Gottes gesehen und gelobt).
In beiden Teilen der Bibel begegnet uns der Gedanke der Barmherzigkeit;
sie ist eine Eigenschaft Gottes und von Menschen, die motiviert und zum Tun motiviert. Die wohl bekannteste Bibelgeschichte für Barmherzigkeit ist die, welche der Evangelist Lukas in der Geschichte vom barmherzigen Samariter festgehalten hat. Da geht barmherziges Handeln sogar über die Grenzen von Religion, Zugehörigkeit und gesellschaftliche Regeln hinaus.
Wer Hilfe braucht, dem muss geholfen werden, und jede/r kann dazu etwas beitragen. Das lehrt mich diese Geschichte.
Ein anderer Gedanke zur Jahreslosung führte mich in die Geschichte unserer christlichen Kirchen.
Im Kirchenjahr 2015-2016 hatte Papst Franziskus für die katholischen Gläubigen (angesichts 50 Jahre zweites Vatikanisches Konzil) mit der Bulle „Misericordia vultus zu einem „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“ aufgerufen.
Jede Kirche und Gemeinde sollte – wie der Petersdom – eine „Pforte der Barmherzigkeit“ haben, was übertragen wurde darauf, dass die Caritas-Arbeit in den Gemeinden verstärkt in den Blick genommen und reformiert wurde.
Übrigens: Barmherziges Tun kennt nicht nur die Christliche Tradition, sondern auch das Judentum, der Islam, Bahai-Religionen, Buddhismus und Hinduismus. Und die drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam sind sich sogar darin einig, dass die die Barmherzigkeit Gottes als Gottes herausragende Eigenschaft und Wesensart bezeichnen.
Das bedeutet für mich: Unsere Jahreslosung „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“, das hat etwas mit unserer Kirche zu tun.
Und das hat es ganz deutlich. Denn die christliche Tradition, die hat die sogenannten 7 Werke der Barmherzigkeit (abgeleitet aus der sog. Endzeitrede bei Matthäus, ich war krank…. Und ihr habt mir geholfen….. gefangen…. Und ihr habt mich befreit…..usw.).
• die Hungernden speisen
• den Dürstenden zu trinken geben
• die Nackten bekleiden
• die Fremden aufnehmen
• die Kranken besuchen
• die Gefangenen besuchen
• Tote begraben
Wobei die katholische Tradition aus katechetischen Gründen diese später als die „leiblichen Werke der Barmherzigkeit“ macht und ihnen „7 geistliche Werke der Barmherzigkeit“ an die Seite stellt, welche lauten:
• Unwissende belehren
• Zweifelnden raten
• Trauernde trösten
• Sünder zurechtweisen
• Dem Beleidiger verzeihen
• Unrecht ertragen
• Für Lebende, Sterbende und Tote beten
Und auch wenn die lutherische, reformierte also evangelische Tradition die Lehre von den Werken der Barmherzigkeit nicht übernommen hat, weist sie ihnen gemeinsam mit den Seligpreisungn in der Bergpredigt große Bedeutung zu und das Handeln in Kirche und Diakonie hat sich an ihnen orientiert.
Und wir sollen uns im Jahr 2021 auch daran orientieren. Für Gott ist Barmherzigkeit Liebe, große Güte und Gnade, die er jedem Menschen entgegenbringt.
Barmherzig sein zu können – wir bekommen es geschenkt. Ein Neujahrs-Geschenk, das wir in diesem Jahr auspacken können, und entdecken, etwas daraus machen.
Ich finde, es ist ein gutes Geschenk.
Und bin gewiss, dass wir – jede/r für sich, aber auch wir als Gemeinschaft, Gemeinde, etwas damit anfangen können.
Ehrlich gesagt – ich musste mich in den vergangenen Tagen ganz schön bremsen. In der Vorbereitung auf diese Predigt, da kullerten mir so viele Gedanken durch den Kopf. Sprudelten viele, viele neue Ideen für unsere Gemeinde.
Eine z.B. ist, in diesem Jahr doch mal über die 7 Werke der Barmherzigkeit zu predigen – eine spannende Predigtreihe, die sich auch nicht unbedingt auf eine Kirche reduzieren muss, sondern (sofern das wieder möglich ist) vielleicht auch unsere ganze Region einbezieht (Kirchen dieser und der Nachbargemeinden, Kirche in der Klinik in Merheim, Ökumene usw.).
Vielleicht gefällt ihnen die Idee auch, ich werde die mal mit meinen Kollegen besprechen.
Eine andere Idee ist eine, die mir durch Zufall zukam, weil sie mir erzählt wurde. In der Vorbereitung auf Silvester hörte ich von der Tradition, dass am Silvesterabend das sog. „Silvesterglas“ hervorgeholt und geleert wurde. Dabei handelt es sich keineswegs um einen besonderes alkoholisches Getränk.
Sondern um ein Glas, in dem das ganze Jahr über gesammelt wurde, was große oder kleine Freude gemacht hat, wofür ein Mensch aus der Familie dankbar war.
Auf einen Zettel das Datum (und wer möchte den Namen) notiert, und dann den Gedanken aufgeschrieben und ab in ein großes Glas. Und, ihr Lieben, genau das habe ich mir für 2021 vorgenommen und hier ist es – das Silvester-Glas für unsere Gemeinde. Es steht in der Auferstehungskirche auf der Kanzel und ist für Sie zu den Gottesdienstzeiten immer zugänglich.
Ich hoffe auf Ihr und Euer Mittun – es wird immer hier vorne auf der Kanzel stehen und darf gefüllt werden, und am Silvester-Abend-Gottesdienst wollen wir es dann einmal öffnen und von den Freuden eines Jahres daraus etwas hören. Machen Sie mit?
Einen letzten Gedanken will ich nicht zurückhalten. Den, dass Barmherzigkeit nicht nur etwa ist, dass wir anderen gegenüber entgegenbringen. Sondern auch uns selbst.
Ich komme darauf aus den Erfahrungen mit Menschen, die einen pflegebedürftigen Angehörigen haben und sich in der Pflege über das gesunde Maß engagieren (weil sie vielleicht keine Hilfe annehmen können oder wollen, ganz auf eine Person fixiert sind oder sich selbst einfach ganz dabei aus dem Blick nehmen).
Eine Kollegin sagte mir in einer solchen Situation und ganz bezogen auf unsere Jahreslosung einmal: „So wie ich Jesus verstehe, heißt das nicht: Sei barmherzig bis zur Selbstaufopferung. Sei barmherzig, bis du nicht mehr kannst. – sondern: Sei barmherzig, wie Gott barmherzig ist – das verstehe ich vielmehr so: Sei auch du mit dir barmherzig, wie Gott mit dir barmherzig ist.“
Das finde ich, lohnt sich auch in diesem Jahr 2021 zu beherzigen, in dem es um Barmherzigkeit geht, dass wir auch mit uns selbst, unseren Unzulänglichkeiten, Fehlern, blinden Flecken, aller Selbstüberschätzung etc. gegenüber barmherzig sein sollen. In diesem Sinne bin ich sehr froh, eine moderne Version der Werke der Barmherzigkeit gefunden zu haben, welche lauten:
Einem Menschen sagen
• Du gehörst dazu
• Ich höre dir zu,
• ich rede gut über dich
• ich gehe ein Stück mit dir
• ich teile mit dir
• ich besuche dich
• ich bete für dich
Ein Jahr in dem wir das tun, wäre für mich ein gutes Jahr. Für Sie auch?
Übrigens: Einer der bekanntesten Psalmen-der Psalm 23- endet mit dem segensreichen Vers: „Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.“ Das wünsche ich uns für 2021. AMEN
Und der Friede Gottes, der größer ist als alles, was wir denken und begreifen, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. AMEN
Amen.
A. Stangenberg-Wingerning