Mein Heiligabend in meinem Studienjahr 1987 in Frankreich war ein ganz besonderer. Die meisten Deutschen waren nach Deutschland zu ihren Familien nach Hause gefahren. Nach einem mit ein paar Freunden gemeinsam organisierten Abendessen, das außer ein paar Kerzen, keinerlei weihnachtlichen Charakter aufwies, saß ich nun mit ihnen in kurzer Hose und T-Shirt draußen in einem Café auf dem Theatervorplatz in Montpellier (Südfrankreich). Die Sonne war gerade untergegangen. Es war so milde warm und ungewohnt, dass in mir die rechte Weihnachtsstimmung bis dahin nicht aufkommen wollte. Vertrautes war nicht da. Allein schon die kälteren Temperaturen fehlten, aber auch die Familie, die sonst zusammenkam, war weit weg in Deutschland und ich fragte mich: „Hängt Weihnachten nur an den üblichen Gebäcken, Speisen und Gewohnheiten – nur am Vertrauten?“ Eben saßen wir noch im Café und nun besuchten wir zu später Stunde einen Gottesdienst der Malgaches (Ureinwohner aus Madagaskar), die in einer evangelischen Kirche dort ihren Gottesdienst als Auslandsgemeinde feierten. Ihre Sprache gleicht ein wenig der finnischen – ewig lange Wörter mit ganz vielen Vokalen. Wir verstanden natürlich nichts und auch beim Singen hinkten wir irgendwie hinterher. Wieder etwas Fremdes, nicht Vertrautes und doch bewegte mich auf einmal dieser Gottesdienst. Mir wurde bewusst: diese Menschen sind hier in Frankreich genauso wie ich Fremde. Auch sie werden Manches von zuhause an diesem Abend vermisst haben, aber sie besinnen sich auf das Wesentliche. Mir wurde schlagartig klar: Das Wesentliche ist nicht die Tradition oder das Vertraute – das, was immer schon so war, sondern die Besinnung auf die Botschaft von Weihnachten. Und die habe ich dann auch verstanden, ohne die Sprache zu kennen. Sie besannen sich in diesem Gottesdienst auf das Licht, das in unsere Welt gekommen ist und das tat ich dann auch und damit wurde für mich Weihnachten. So hatte ich im Fremden doch Vertrautes ganz anderer Art entdeckt. Nichts war wie sonst und es gab so gut wie keine Geschenke, aber das war das größte Geschenk an diesem Weihnachten: nicht die Macht der Gewohnheit, sondern die Gegenwart des göttlichen Lichtes, das überall strahlt. Damals in einem ärmlichen Stall, hier in einem fremdartigen Gottesdienst von Fremdlingen und Weihnachten 2020 in Corona-Deutschland sicher auch noch mal ganz anders und ungewohnt.
Für uns in Deutschland gehören Dinge zu Weihnachten und besetzen dieses Fest als feste Gewohnheiten, die woanders ganz anderer Art sind. Die Engländer z. B. feiern Weihnachten fast karnevalistisch oder wie Sylvester oder eine Geburtstagsfeier. Sie schmücken ihre Wohnzimmer mit vielen Girlanden und Luftschlangen. Am Heiligabend („Christmas Eve“) gibt es in England ein Festessen, und natürlich muss zu diesem Anlass auch der Tisch festlich geschmückt werden. Oftmals werden die Teller mit kleinen Hüten zum Aufsetzen und Tröten dekoriert. Zur Feier des Tages gibt es häufig einen Truthahn und Plumpudding, in dem eine Münze versteckt wird. Der Glückliche, der die Münze in seinem Plumpudding findet, darf sich etwas wünschen. Bei Plumpudding handelt es sich nicht um einen Pudding, sondern so etwas wie ein Kuchen mit Rosinen und Nüssen. Eine richtige Geburtstagsparty. Völlig nachvollziehbar, denn schließlich ist Christus geboren.
Weihnachten wird in Schweden „Julfest“ genannt. Anders als bei uns dauert das Fest ziemlich lang: Es beginnt am ersten Advent und endet erst im nächsten Jahr, am 13. Januar. In Schweden ist der 13. Dezember ein sehr wichtiges Datum, denn dieser Tag ist der Tag der Heiligen Lucia. Die Heilige Lucia wird auf Bildern immer mit einem Kranz auf dem Kopf dargestellt, auf dem auch Kerzen befes-tigt sind. Sie hat die Aufgabe, Licht ins Dunkel zu bringen. Der ältesten Tochter einer Familie wird an diesem Tag eine ehrenvolle Aufgabe zuteil, denn sie darf am 13. Dezember als Heilige Lucia verkleidet durch das Haus laufen und die Familienmitglieder wecken. Sie trägt dann ein weißes Kleid und einen Kranz mit Kerzen auf dem Kopf. Die Kinder bringen an diesem Tag ihren Eltern Gebäck zum Essen ans Bett.
In Mexiko beginnt die Weihnachtszeit mit den „Posadas“ am 16. Dezember. Das sind neun Abende, die für die Schwangerschaft Marias und die Herbergssuche mit Josef stehen. Die vorweihnachtlichen Tage werden bereits mit Familie und Freunden gefeiert. Typisch hierbei ist die Pinata. Das ist eine bunte Figur aus Pappmaché, die mit Süßigkeiten, Früchten und kleinem Spielzeug gefüllt ist. Kinder und Erwachsene schlagen mit einem Stock darauf, bis die Füllung heraus fällt. So versüßen sich die Menschen in Mexiko die Tage vor Weihnachten. An Heiligabend ist dann die neunte Posada. Dieser Tag läuft ähnlich wie in Deutschland ab. Die Familien gehen in die Kirchen, danach gibt es ein gemeinsames Abendessen und die Bescherung. In Mexiko wird auch der Tag der Heiligen drei Könige (Santos Reyes) am 6. Januar noch groß gefeiert.
In Ghana in Afrika gibt es an Weihnachten mehrstündige Gottesdienste unter freiem Himmel, bei denen trotz verbreiteter großer Armut freudig gesungen und ausgelassen getanzt wird aus Freude über das Licht Gottes. Das Schenken beschränkt sich da oft auf das Teilen von Essen mit Familie und Nachbarn. Selbst arme Familien bereiten an diesem Tag ein Festmahl zu. Es gibt Reis, Ziegen- oder Hühnerfleisch und viele Früchte.
So unterschiedlich können die Gewohnheiten und Traditionen zu Weihnachten sein. Der Pfarrer Werner Dümling, den ich persönlich kennenlernen durfte, erlebte Heiligabend 1946 in englischer Kriegsgefangenschaft ohne Tannenbaum und groß Tam Tam. Gleichwohl hatte auch er sich auf das Licht Gottes besonnen und es an jenem Abend als Geschenk von Weihnachten auch erlebt.
Sein Mitgefangener hatte ihm eine witzige Zeichnung geschenkt, die ihm ein ewiges Lachen in dieser trüben Zeit und dieser heiligen Nacht bereitete. Beide hießen Werner mit Vornamen und dieser Werner musste immer das Schnarchen von Werner Dümling ertragen und machte dazu eine humorvolle Zeichnung, bei der Gott sicherlich mitgelacht hat.
Weihnachten kann in der Tat alles anders und ungewohnt sein. Ich will nicht gegen Traditionen schreiben. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich zu Heiligabend nach dem Spätgottesdienst immer zu schlesischen weißen Würstchen bei mir im Pfarrhaus einlade und darauf nur ganz schwer verzichten könnte. Aber ich frage: was passiert, wenn Traditionen und Gewohnheiten auf einmal wegfallen und das vielleicht sogar befremdet, wie mich damals in Montpellier. Dann muss es ein Umstellen auf andere Arten, Weihnachten zu feiern und Gottesdienste zu gestalten, geben und ein Besinnen auf das Wesentliche: die Gegenwart des göttlichen Lichts in unserem Leben. Ein veränderter Blick, der mehr sieht als nur das Gewohnte und Gewöhnliche. Da sind dann mal Dinge ganz anders, wie auf dem Titelbild unserer Impulse.
Dr. Wenzel (Pfarrer)