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Gedicht: Wer einsam sitzt in seiner Kammer

Gedicht: Wer einsam sitzt in seiner Kammer

Das Gedicht von Novalis, des wohl bekanntesten deutschen Dichters der Epoche der Romantik, wurde von mir eingestellt, weil ich persönlich in manchen dieser Zeilen immer wieder Trost gefunden habe. Es hat mit seinem Thema (Leben, Leid, Tod, Sehnsucht) auch einen Bezug zu den gegenwärtigen Geschehnissen im Zusammenhang mit dem Corona-Virus . Und sein Titel mag für manche verblüffend aktuell wirken, wo Menschen sich wegen des Corona-Virus in das stille Kämmerlein zurückziehen müssen. Manche erleben es als ein Gefängnis. Aber es ist auch eine Chance zu Entdeckungen und zur Selbsterkenntnis. Das Gedicht wurde unter anderem von der gleichnamigen deutschen Art-Rockgruppe Novalis 1976 vertont (auf der Platte “Sommerabend” (sehr zu empfehlen), Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel

 

Wer einsam sitzt in seiner Kammer (von Novalis, 1772–1801)

Wer einsam sitzt in seiner Kammer,
Und schwere, bittre Tränen weint,
Wem nur gefärbt von Not und Jammer
Die Nachbarschaft umher erscheint;

Wer in das Bild vergangner Zeiten
Wie tief in einen Abgrund sieht,
In welchen ihn von allen Seiten,
Ein süßes Weh hinunter zieht;

Es ist, als lägen Wunderschätze
Da unten für ihn aufgehäuft,
Nach deren Schloß in wilder Hetze
Mit atemloser Brust er greift.

Die Zukunft liegt in öder Dürre
Entsetzlich lang und bang vor ihm,
Er schweift umher, allein und irre,
Und sucht sich selbst mit Ungestüm.

Ich fall ihm weinend in die Arme:
Auch mir war einst, wie dir, zumut,
Doch ich genas von meinem Harme,
Und weiß nun, wo man ewig ruht.

Dich muß, wie mich, ein Wesen trösten,
Das innig liebte, litt und starb;
Das selbst für die, die ihm am wehsten
Getan, mit tausend Freuden starb.

Er starb, und dennoch alle Tage
Vernimmst du seine Lieb und ihn,
Und kannst getrost in jeder Lage
Ihn zärtlich in die Arme ziehn.

Mit ihm kommt neues Blut und Leben
In dein erstorbenes Gebein;
Und wenn du ihm dein Herz gegeben,
So ist auch seines ewig dein.

Was du verlorst, hat er gefunden;
Du triffst bei ihm, was du geliebt:
Und ewig bleibt mit dir verbunden,
Was seine Hand dir wiedergibt.