(gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Versöhnungskirche in Köln-Rath-Heumar)
Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen
Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
„Ich kann nicht mehr“ – das sind Worte, die mir seit gestern noch im Ohr nachklingen und die mich nicht loslassen. Gesprochen von einem 83 jährigen Freund, den ich gestern besucht habe. Er ist sogenannt austherapiert. Keine Chance mehr auf Heilung. Der Krebs hat seinen Körper im wahrsten Sinne des Wortes lahm gelegt. Er kann kaum noch einen Schritt gehen. Er geht nun unweigerlich auf’s Sterben zu. Lediglich gegen die Schmerzen lässt sich etwas machen. Vor wenigen Tagen war er noch kurzzeitig im Krankenhaus, weil weitere Komplikationen dazu gekommen sind. Die Unterleibsoperation vor nun etwa drei Jahren hatte nicht nur nicht den gewünschten Erfolg gehabt, dass der Krebs damit für die nächsten Jahre besiegt worden wäre. Sie hatte aus ihm auch einen anderen Menschen gemacht, der ständig von Schmerzen und Mobilitätsproblemen begleitet war. Zu Beginn dieses Jahres waren wir noch ein letztes Mal nach Madeira geflogen. Eine Insel in der Ferne, die er liebt und oftmals in seinem Leben – früher noch mit seiner Frau an seiner Seite – besucht hatte. Seine Frau, für die er liebevoll gepflegt hatte, ist bereits vor vier Jahren gestorben. Auf Madeira war seine Mobilität bereits erheblich eingeschränkter. Er konnte maximal noch 2 Km an einem Stück zu Fuß gehen. Aber dort vor Ort sein, war alles für ihn. Die Freude an den Erinnerungen, die Atmosphäre, das ihm vertraute Hotel mit dem ihm vertrauten Personal, die Orchideen, Bananen und anderen wunderschönen Pflanzen vor Ort, das vorzügliche Essen, der gute Wein, die Sonne und das weite Meer. Es war eine Wohltat für ihn.
Er hat sein Leben immer selbst gemeistert und ist nach so mancher Niederlage wieder aufgestanden. Und nun: „Ich kann nicht mehr“. Ich hörte es gestern nicht das erste Mal aus seinem Munde. Bereits als er aus einer Rehamaßnahme zurückkehrte, die nicht den gewünschten Erfolg hatte, seine Mobilität noch mal zu fördern und er in sich zuhause förmlich innerlich zusammenbrach, war das zu hören: „Ich kann nicht mehr“.
Manche sagen das, um Aufmerksamkeit zu bekommen oder auf Andere Druck auszuüben. Bei ihm waren es jedoch die beiden Male, wo ich es hörte, die absolut ehrlichsten Worte aus seinem Munde.
Da ist ein Weg zu gehen, aber ich kann nicht mehr.
„Ich kann nicht mehr“ – so waren auch die Gedanken und Worte von Elia, einem Propheten, von dem das Alte Testament erzählt. Auch er war völlig erschöpft, nicht etwa weil er sterbenskrank war, aber weil sein Auftrag, den er von Gott erhalten hatte, seine Kräfte überstieg. Um was es bei diesem Auftrag genau ging, ist in diesem Zusammenhang überhaupt nicht wichtig. Wichtig erscheint mir vielmehr dieses „Ich kann nicht mehr“ und was die Geschichte dazu erzählt, wie Gott darauf reagiert.
Hören wir, was im 1. Buch der Könige, Kapitel 19, Verse
„Elia ging hin in die Wüste eine Tagereise weit und kam und setzte sich unter einen Ginsterstrauch und wünschte sich zu sterben und sprach: Es ist genug, Ich kann nicht mehr. So nimm nun, HERR, meine Seele zu Dir; ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich hin und schlief unter dem Ginsterstrauch.
Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iss! Als Elia sich umschaute, entdeckte er hinter seinem Kopf ein frisches Fladenbrot und einen Krug mit Wasser. Und nachdem er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen. Und der Engel des HERRN kam zum zweiten Mal, rührte ihn an und sprach: Steh auf und iss! Denn du hast noch einen weiten Weg vor dir. Und Elia stand auf und aß und trank und ging durch die Speise gestärkt vierzig Tage und vierzig Nächte bis zum Berg Gottes, dem Horeb.“ Amen
Soweit die kurze Erzählung aus dem Leben von Elia.
„Ich kann nicht mehr“ das sind die ehrlichen Worte erlebter Ohnmacht, sei es desjenigen, den die Kräfte verlassen und der auf den Tod zugeht. Sei es desjenigen, der einen schwerstkranken Menschen bis ins Sterben begleitet, sei es desjenigen, der nach dem Tode in diesem Leben allein zurückbleibt und seinen Weg nun weiter gehen muss. Ich möchte mit Euch auf diese Geschichte jeweils aus diesen drei unterschiedlichen Perspektiven schauen und hören und entdecken, was sie uns da sagen kann.
Wenn im Betrieb einer einen Auftrag nicht erledigt, weil er es nicht schafft, wird er gerügt oder es wird ihm der Auftrag entzogen oder er wird zeitnah aus dem Betrieb geworfen.
Zwischen Gott und den Menschen ist das anders. Elia droht am Auftrag zu zerbrechen. Ja, er hat einen Zusammenbruch und sagt: „Ich kann nicht mehr“. Er spürt das unmäßige Gewicht der Last, die er tragen muss. Ganz so wie mein Freund gerade an seiner Last zu zerbrechen droht oder die Euch nahestehenden Menschen, die Ihr auf ihren jeweiligen Wegstrecken der Krankheit oder des Sterbens begleitet habt.
Und so ist die erste Botschaft dieser Geschichte von Elia und dem Engel: Gott sieht das und lässt sich von der erlebten Ohnmacht des Elia, von seinem ausgerufenen „Ich kann nicht mehr“ im wahrsten Sinne des Wortes berühren. Wir hören, wie es nach dieser Selbstmitteilung von Elia an Gott und nachdem er sich schlafen gelegt hat, es ausdrücklich heißt: „Und siehe ein Engel rührte ihn an“. Wenn wir den Engel hier symbolisch für die Gegenwart oder Anwesenheit Gottes verstehen wollen und es heißt, dass der Engel Elia anrührte, dann dürfen wir das genau so hören: Gott lässt sich von unserem Leid berühren. Unsere erlebte Ohnmacht rührt ihn an. Er thront nicht auf Wolke Sieben.
Und da kommen auch keine simplen Durchhalteparolen oder Vorhaltungen, nach dem Motto: „Nun stell dich nicht so an! Was bist du denn für eine Memme? Du bist tatsächlich nicht besser als deine Väter!“ Nein, das Burnout von Elia – so würde man das wohl heute nennen – nimmt Gott ganz ernst. Er nimmt ganz ernst, dass Elia es so erlebt, dass er unter all der Last zusammenbricht.
Dasein ist jetzt gefragt. Wie kann Gott für uns da sein? Wie kann Gott für mich da sein, der ich den Weg nicht weiß, der ich es nicht mehr aushalte, der ich nicht mehr weiter kann, der ich erschöpft bin und am liebsten nur noch endlos schlafen will oder auch gar nichts Anderes mehr tun kann als eben genau dies. Die Antwort ist: Gott kann nur durch seine Engel für uns da sein. Das müssen keine Männer mit Flügeln sein, wie Rudolf Otto-Wiemer zurecht in einem seiner Gedichte sagt: Sie sind ganz anders die Engel sagt er:
„Sie gehen leise, sie müssen nicht schrein,
oft sind sie alt und hässlich und klein,
die Engel.
Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand,
die Engel.
Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand,
oder er wohnt neben dir, Wand an Wand,
der Engel.
Dem Hungernden hat er das Brot gebracht,
der Engel.
Dem Kranken hat er das Bett gemacht,
und hört, wenn du ihn rufst, in der Nacht,
der Engel.“
So beschreibt er in seinem Gedicht die Engel. Und wir spüren: Er beschreibt es zutreffend und ich denke, die ein oder Anderen von Euch entdecken sich vielleicht sogar selbst darin. Wir haben diese Aufträge von Gott, genauso für unsere Liebsten da zu sein. Gottes Dasein, Gottes Solidarität zu bezeugen für unsere Liebsten, die sagen oder zu verstehen geben: „Ich kann nicht mehr“.
Der Engel, der Elia das Brot reicht und das Wasser zum Trinken gibt, lässt mich an all die Angehörigen denken, die mir in Trauergesprächen erzählt haben, wie sie für ihre Liebsten noch die ein oder andere Lieblingsspeise gekocht haben oder ihnen alltäglich das Essen und den Trinkbecher am Bett angereicht haben, dass sie begleitet von Liebe ihren letzten Weg gehen und schaffen können. Die Liebe – das ist die Sprache Gottes. Das ist das Zeugnis der von ihm beauftragten Engel, wenn ein Mensch an seiner eigenen Aufgabe oder seiner eigenen Last zu zerbrechen droht und nichts als seine völlige Ohnmacht erlebt. Da muss diese Liebe die Leere des Raume und der Seele füllen. Die Liebe, die sich dem nicht einfach entzieht, sondern mit aushält und nährt und stark macht.
Die Nahrung auf dem schweren Weg, das können sogar Nachrichten auf dem Handy sein. Bilder, Botschaften, liebe Worte oder selbst gemachte Filme, die die Enkelkinder oder andere Angehörige oder Freunde aus der Ferne schicken, wenn sie nicht in der Nähe leben oder sein können.
All das hat Menschen geholfen, den Berg zu schaffen, der vor ihnen liegt – so wie Elia seinen Weg schließlich gegangen ist gestärkt durch die Wohltaten der Engel. Elia konnte sich die Kraft nicht aus sich selbst heraus geben, genauso wenig wie mein 82 jähriger Freund, der früher alles selbst gemeistert hat, sich die Kraft nun selbst geben kann. Da hilft nur Fallen lassen, Schlafen und Empfangen wie Elia. Und vielleicht ist das sogar eine Haltung, die man in dieser Zeit ganz neu lernen muss, sozusagen auf die letzten Tage. Aber die Engel können einem ja dabei helfen, sich fallen zu lassen und Hilfe anzunehmen.
Jeder braucht so einen Engel. Es ist klar, dass auch ich als Angehöriger, wenn ich selbst die Funktion eines Engels übernehme, bald am Ende meiner Kräfte sein kann und ich denke an all die lieben Angehörigen, die sich so erlebt haben und das ein oder andere Mal eben an genau diesem Punkt selbst standen, wo sie sagten: „Ich kann nicht mehr“. Und damit sind wir bei der Perspektive auf diese Geschichte aus der Sicht der begleitenden Angehörigen und Freunde.
Das Schlimmste in erlebter Ohnmacht ist, wenn diese nicht gehört wird oder mit jemandem geteilt werden kann. Wenn ich als Angehöriger damit also ganz allein bin. Die Geschichte vom Engel, der Elia nicht allein lässt, will uns sagen, dass jeder einen Engel braucht, dass jeder Verbündete braucht und im allerbesten Fall ein ganzes Netz von Engeln. Neben einem Pflegedienst kann das auch ein Palliativdienst sein oder Nachbarn, die helfen ganz praktische Erledigungen zu machen wie Einkäufe oder aber in der Zeit des selbst vorgenommenen Einkaufs, mal beim Liebsten so lang präsent sind. Oder es kann der Pfarrer sein oder jemand anders von der Gemeinde, bei dem ich mich mal ausquatschen und dem ich mich mit meiner Ohnmacht anvertrauen und mitteilen kann, auf dass die Last leichter zu tragen und meine Einsamkeit aufgehoben wird. Ich kann nur ausdrücklich dazu ermutigen, sich gerade auch bei Menschenoder Kreisen in der Gemeinde Unterstützung zu holen oder auch in den Kreisen, in denen ich mich schon lange bewege und wo ich die Menschen gut oder besser kenne, sei es Kegelclub, Wanderfreunde oder im Sportverein oder auch bei manchen Kollegen am Arbeitsplatz. Viele sind bereit, tatsächlich hinzuhören und mitzutragen oder auch irgendetwas konkret zu tun, wenn sie es nur wissen und jemand sie teilhaben lässt. Wir beklagen immer gerne, dass heute jeder nur an siuch selber denken würde. Das ändert sich aber spätestens dann, wenn ich jemandem vermittle: Ich brauche dich jetzt. Nur Sprechenden kann geholfen werden.
Und Elia, um auf ihn zurückzukommen, hat gesprochen. Er hat es förmlich aus sich herausgerufen – „Ich kann nicht mehr“ – und sogar vor Gott selbst gebracht. Gott und die Engel brauchen es, dass wir uns ihnen zumuten. Sonst wissen sie nicht, was los ist und was zu tun ist.
Sich Verbündete zu suchen, sich vor Anderen zu öffnen, sich anzuvertrauen, mit dem, was in mir ist, ist der erste Schritt zur Entlastung und dafür, dass der Weg am Ende doch gehbar wird und gelingen kann.
Aber noch mal ganz neu fühlt sich dieses „Ich kann nicht mehr“ an, wenn ich als Angehöriger oder Freund den großen Schmerz der Trauer spüre, den der Tod des mir nahestehenden Menschen hinterlässt. Eine ganze Reihe von Menschen waren über sechzig Jahre mit den Verstorbenen freundschaftlich, partnerschaftlich oder ehelich und familiär verbunden. Es ist wie wenn da ein Teil von einem selbst geht. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr ohne diesen Menschen weiterleben. Der Schmerz ist so ungeheuer groß. Gekränkt möchte ich mich ganz zurückziehen wie Elia in der Wüste. Aber auch, wo es weit weniger Jahre sind, ist das Gefühl ganz verwundet zu sein und der Schmerz groß. Die Anzahl der Jahre allein macht es ja nicht aus, sondern die Qualität oder Intensität der Beziehung.
Wir brauchen in dieser Zeit Weckrufe, so wie Elia mehrfach vom Engel wachgerufen, ins Leben eingeladen und gerufen wurde. „Steh auf und iss, denn der Weg ist noch weit.“ Nun müssen das ja nicht gleich Dinge sein, für die man in solcher Zeit kaum empfänglich ist. Für irgendwelche Action-Programme oder Feten werden Betroffene wenig empfänglich sein, aber vielleicht für Einladungen zum Essen bei einem zuhause oder zum gemeinschaftlichen Kochen im kleinen Kreis oder zu zweit durchaus. Denn da verbindet sich Reden mit Essen verbinden und die das Isolierende der Trauer kann aufgebrochen werden, ohne dabei eine Brechstange anzuwenden und das Rückzugsbedürfnis nicht zu respektieren.
Auf den vielen Nachtreffen der Trauerfeiern, zu denen ich eingeladen war und an denen ich teilnehmen konnte, war da auch etwas von zu spüren. Nahestehende Menschen der engsten Angehörigen haben gebacken oder gekocht oder einfach irgendetwas organisiert, dass alle die schönen Erinnerungen teilen konnten, Dankbarkeit, ebenso wie Trauer oder Schmerz und das hat auf dem Weg der Trauer gestärkt.
Auch das Abendmahl, das wir heute gemeinsam feiern, ist so ein Gemeinschaftsmahl, in dem wir uns mit Gott und den Menschen in der Hoffnung auf Leben ausrichten und verbunden fühlen dürfen und dabei auch die Verbundenheit mit unseren Verstorbenen spüren können, denn sie gehören mit zu der Gemeinschaft, die uns mit Gott durch seinen Geist und seine Liebe verbíndet.
Das Wichtigste, was wir trauernden Menschen als Gefühl vermitteln können, wenn sie verzweifelt sind und nicht mehr können, ist: In meinem Herzen ist ein Platz für dich. Hier bei mir ist ein Platz für dich. Ich gebe Dir Raum und Zeit für deine Gefühle und Gedanken – für das, was dich bewegt.
Es gibt eine alte Tradition im Judentum, die aber auch im Christentum Einkehr erhalten hat, insbesondere in Frankreich, nämlich, dass man am gedeckten Tisch, immer ein Gedeck mehr hinstellt als Personen am Essen teilnehmen – in Erinnerung an die Geschichte von Elia. Wenn er als Prophet wiederkommen sollte, braucht er ja einen Platz, wo er etwas zu Essen bekommt in Erinnerung an diese Geschichte vom Engel und an eine andere Geschichte, wo er durch eine Witwe ernährt und vor dem Verhungern bewahrt wurde. Ein Gedeck als Platzhalter für Elia oder auch – wer das tun möchte – für den nahestehenden Menschen, der von uns gegangen ist und nicht mehr bei uns sein kann wie zuvor, aber mit dem wir in Gottes Geist und Liebe verbunden bleiben. Es ist schön, damit auch zu erinnern, dass uns in allem Schweren, Gott längst einen Engel gesandt hat, der zu uns hält und uns stärken will – auf unseren Wegen hier und auf unseren Wegen in eine andere Welt, wenn dies Leben einmal zu Ende geht. Der Tisch ist längst gedeckt wie beim Abendmahl und wir dürfen einfach teilhaben und uns bedienen lassen, auf dass wir stark werden. Amen
Chor: „Gott hat Dir längst einen Engel gesandt“