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Heilung der gekrümmten Frau - Ausschnitt aus dem Evangeliar Otto III. (copyright: wikimedia)

Predigt am 04.09.2022

(Predigt gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Auferstehungskirche in Ostheim)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

„Freiheit ist nicht nur ein Wort. Freiheit, das sind Worte und Taten. Als Zeichen der Freiheit ist Jesus gestorben, als Zeichen der Freiheit für diese Welt.“

Das ist nicht etwa ein Loblied auf einen Soldaten, der sein Leben für die Freiheit seines Vaterlandes gegeben hat, womit Kriege früher immer wieder gerne begründet wurden und auch heute gerne noch mit begründet werden. Nach dem Motto: Man muss eben ein Opfer bringen für die Freiheit. Sondern diese Zeilen sind auf Jesus Christus bezogen, der die Freiheit der Menschen wollte und in der Tat dafür sein ganzes Leben gab. Der Unterschied ist: Bei ihm war es eine Sendung Gottes, die dem Leben dient. In Kriegen war es eine menschliche Sendung, die dem Tod dient.

Gott will uns als freie Menschen und es bedurfte Jesu Christi, dass wir innerlich frei werden von Schuld und Sünde und uns das dem Leben neu zuführt ja, zu neuem Leben führt. Und es bedurfte der Hinwendung und Hingabe dieses Menschen mit seinem ganzen Leben – und hier ist wirklich sein Leben gemeint und nicht sein Tod, dass sich Menschen als von Gott Befreite erleben. Dass Menschen erleben: Gott will und meint tatsächlich meine Freiheit und nicht meine Unterwerfung und mein Opfer an menschliche Gewalten oder Ideale, und sei es die durch einen Krieg oder die auf kriegerische Reaktion bezogenen herbeigeführten oder herbeigezwungenen Ideale.

Wer sich durch Gott befreit fühlt, verliert die Angst vor Mächten und Gewalten oder anderer Fremdbestimmung seines Lebens.

Jesus Christus, Sohn Gottes, Befreier der Welt, stand auf dem Schild am Kreuz Jesu damals in lateinischer Inschrift. Im Griechischen und Lateinischen ist das Wort für Befreier dasselbe Wort wie für Retter. Und beides meint letztlich auch dasselbe. Wenn ich jemandem einen Rettungsring zuwerfe, um ihn vor dem Untergang zu retten, dann will ich ja, dass er schließlich aus den Massen, aus der Gewalt des Wassers befreit wird.

Die Geschichte, die uns im Predigttext begegnet, erzählt davon, wie ein Mensch durch Jesus Befreiung erlebte, wie sich ein Mensch als ein durch Gott befreiter Mensch erlebte. Sie ist zu finden im Lukasevangelium Kap. 13, Verse 10–17.

Da heißt es: „Jesus lehrte in einer Synagoge am Sabbat. Und siehe, eine Frau war da, die litt seit achtzehn Jahren an einem Geist, der sie schwach machte. Sie war zusammengekrümmt und konnte nicht mehr aufrecht gehen. Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, du bist befreit von deiner Schwäche! Er legte ihr die Hände auf; und die Frau richtete sich sofort gerade auf und pries Gott. Daraufhin antwortete der Vorsteher der Synagoge, der über die Heilung am Sabbat verärgert war, zu dem Volk: Es gibt sechs Tage zum Arbeiten. An diesen Tagen kann man kommen, um sich heilen zu lassen, aber nicht am Sabbattag. Da antwortete ihm Jesus und sprach: Macht Euch doch nichts vor! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel vom Futterplatz los und führt das Tier zur Tränke, wenn es da braucht? Sollte dann nicht diese Frau, die doch eine Tochter Abrahams ist und die der Satan schon achtzehn Jahre gefesselt hatte, am Sabbat von dieser Fessel nicht befreit werden? Diese Worte beschämten all jene, die gegen Jesus gewesen waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.“ Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus, der Theologe Helmut Gollwitzer hat mal ein Buch über den Sinn des Lebens geschrieben mit dem Titel „Krummes Holz – aufrechter Gang“. Darin beschreibt er, wie zu einem sinnerfüllten Leben ein befreiter Mensch gehört. Ein Mensch, der aufgerichtet ist durch die befreiende Zuwendung Gottes und in Folge dessen, nicht mehr gekrümmt, sondern aufrecht und aufrichtig durch das Leben geht.

Es ist ein dickes und teils sehr theologisches Buch. Trotzdem hatte ich damals mit meinen etwa 17 Jahren dieses Buch verschlungen. Denn als jemand, der sich in der Schule und durch den Vater als krummes Holz erlebt hat, wollte ich wissen, was der Sinn des Lebens ist, ja, was der Sinn al dessen ist, was ich selbst bis dahin erlebte. Und ich entdeckte: der einzige Sinn des Lebens ist: sich von Gott befreien und zum Leben führen zu lassen. Ein wirklich ermutigendes, bis heute für mich ein elementares Buch, das mich damals schließlich zum Theologiestudium und zum Wunsch, Pfarrer zu werden, mit angetrieben hat bzw. mich dabei unterstützt hat.

Genau das erlebt hier die Frau. Ihr Geist ist so negativ durch wen und was auch immer beeinträchtigt – wir würden sagen sie ist durch eine psychische Krankheit geschlagen – ja, ihre Seele scheint in Angst oder Schuld oder Schuldgefühl so sehr gefangen, dass sie sich selbst daraus nicht befreien kann. So sehr gefangen und seelisch-geistig niedergedrückt, dass es sogar körperliche Wirkung hat und in ihrer Körperhaltung zeigt.

Jesu hatte diese Frau berührt, im konkreten wie im übertragenen Sinn. Er hatte sie auch innerlich berührt mit dem, was er sagte. Er machte ihr Mut, sich aufzurichten. Es waren seine Worte der Zuwendung und Befreiung, die Wirkung zeigten und natürlich nicht irgendwelche Zauberhände. Die Hände sind aber Zeichen seiner vollkommenen Zuwendung zu dieser Frau.

Solche Wunder gibt es noch heute und sind keine Scharlatanerie. Genau solch eine Begegnung mit einer Frau hatte auch ich zu Beginn meiner Laufbahn als Pfarrer. Eine Begegnung, die ich nie vergessen werde und mich zutiefst geprägt hat. Ich glaube, ich hatte vor Jahren hier schon mal davon erzählt.

1991, zu Beginn meines Vikariats in einer psychiatrischen Klinik in Remscheid-Lüttringhausen, in der Stiftung Tannenhof bin ich einer älteren Patientin begegnet, die gekrümmt war. Äußerlich und innerlich. Sie war ganz in einer Depression gefangen. Sie konnte noch nicht mal mehr gehen. Völlig gelähmt, versteift. Als ich sie das erste mal sah, lag sie versteckt unter der Bettdecke. Ich blieb lange da, zeitweise ohne ein Wort zu sagen. Die Bettdecke zog sie nicht zurück, auch beim nächsten Mal nicht, aber da war sie immerhin schon gesprächiger. Über mehrere Monate zog sich ihre Krankheit und die Begegnung hin. Mit der mir eigenen Hartnäckigkeit und Geduld besuchte ich sie immer wieder. Einmal kamen ihr die Tränen, ein erstes Zeichen von Gelöstheit, von Bewegung. Sie fasste Vertrauen und öffnete sich mehr und mehr. Eines Tages vertraute sie mir an, dass sie in der Nazizeit als junge Frau als Sekretärin bei einer KZ-Verwaltung tätig gewesen sei. Sie erzählte mir alles, und wie sehr es sie bedrückt. Ihre Gefühle der Schuld lagen offen – das, was sie ihr Leben lang gefesselt hat. Ich hörte nur zu und als sie mich schließlich fragte, was sie denn jetzt machen solle, wie sie damit weiter leben könne? Da sagte ich ihr: „Legen Sie das vor Gott! Vertrauen Sie sich Gott an! Sprechen Sie zu ihm. Seien Sie gewiss. Er wird ihnen vergeben! Und malen Sie Bilder, wie Sie es früher auch getan haben. Malen Sie Bilder, von dem, was da geschah. Die Bilder, die Sie immer noch beschäftigen oder bedrücken.“

Sie begann tatsächlich, Bilder zu malen und einige Zeit später ereilte mich ein Anruf von der Station. „Herr Wenzel, Sie müssen unbedingt kommen. Es ist etwas passiert!“ ich wusste nicht, was mir das sagen sollte, aber ich kam schnell auf die Station zum Schwesternzimmer. Dort sagte man mir, dass ich doch mal zu der besagten Frau gehen solle. Sie hätte nach mir gefragt. Voller innerer Spannung betrat ich das Patientenzimmer. Ich hatte ja keine Ahnung. Da geschah das für mich völlig Unerwartete. Die Frau erhob sich aus ihrem Rollstuhl, machte zaghaft ein paar unsichere Schritte und sagte: „Gucken Sie mal Herr Wenzel, ich kann endlich wieder gehen.“

Ich habe dieses Erlebnis nie vergessen. Es ist eine hoffnungsvolle Geschichte für alle Erlahmten, für alle, die sich nach Heilung sehnen und Heil ihrer Seele brauchen. Es ist eine hoffnungsvolle Ge-schichte für uns alle, weil sie uns zeigt, was pas-siert, wenn Menschen in Gottes Nähe frei werden, durch Gottes Nähe frei werden. Entscheidend war nicht, dass Gerhard Wenzel da was Tolles gemacht hätte, sondern dass die Vergebung Gottes erfahr-bar wurde. Entscheidend war, dass Christus das vollbracht hat, dass Christus in ihrer Nähe war, dass sie zu Christus gefunden hat, zu neuem Leben. Wie der Gelähmte, stand sie auf, nahm ihren Rollstuhl in die Hände und irgendwann als es so weit war, ging sie auch nach Haus – als Befreite und nicht mehr Gelähmte. Sie stand auf von ihrem eigenen Tod. Jahre später ist sie damals zu meiner Ordinationsfeier gekommen und ergriff das Wort als Rednerin und hatte von diesem Erleben berichtet, hatte gezeugt von der befreienden Liebe Gottes.

Im Zusammenhang mit der Heilung Jesu hören wir von einer Auseinandersetzung, einem Streitgespräch Jesu mit dem Vorsteher der Synagoge. Es war nicht etwa ein Disput von Jesus mit Juden, denn er war ja selbst Jude, sondern mit einer Gruppe innerhalb des Judentums, die mehr am Gesetzesbuchstaben klebte als aus dem Geist Gottes heraus lebte.

Gesetze zur religiösen Pflichterfüllung spielen heute allenfalls noch in islamischen fundamentalistischen Staaten eine Rolle, aber kaum noch in unseren westeuropäischen Breitengraden. Allerdings beschäftigt uns der Buchstabe des Gesetzes auch heute sehr, wo ja auch heute Menschen um der Sicherheit willen permanent mit Gesetzen und Verordnungen reagieren und regieren oder sich darauf berufen, ja, förmlich darin verkriechen und auch andere Menschen damit gerne gängeln. Was uns heute unfrei macht, ist nicht nur ein durchökonomisiertes, sondern auch ein durchbürokratisiertes Leben. Das in Kombination ist fatal. Mit unseren vermeintlichen Sicherheiten, mauern wir doch auch zugleich unser eigenes Gefängnis.

Da höre ich die an uns gerichtete Stimme des Apostels Paulus aus dem Galaterbrief als warnende Erinnerung: „Christus hat Euch zur Freiheit befreit. Lasst Euch nicht wieder unter ein Joch der Knechtschaft bringen!“ Amen