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Herzen mit Unendlichkeitszeichen - copyright Foto: Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel

Predigt für den 1. August 2021

(gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Auferstehungskirche in Ostheim und in der Versöhnungskirche in Rath-Heumar)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

es ist Zeit über einen Text zu predigen, über den sonst eigentlich nur auf Trauungen gepredigt wird. Ein Text, der mir aber in diesen Tagen besonders nahe geht und der auch ursprünglich gar nicht im Kontext von Trauungen entstanden ist, sondern in einem ganz anderen Zusammenhang. Es sind die Worte des Apostels Paulus aus seinem Brief an die Gemeinde in Korinth. Da schreibt er in Kap. 13, in Vers 13: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen“ und in Vers 8 ganz ähnlich: „Die Liebe hört niemals auf“.

Der dortige gesamte Textabschnitt von den Versen 1-13 wird auch gern „das Hohelied der Liebe“ genannt. Und das ist auch der Grund, weshalb dieser Text und insbesondere diese zitierten Verse bei Trauungen so beliebt sind.

Doch schon die Anfangsworte von Vers 13 machen deutlich, dass es hier nicht einfach um Hochzeitsromantik und irgendein Liebesgefühl geht. Die Worte „Nun aber bleiben“ deuten darauf hin, dass wenn man sich mal auf den ursprünglichen Zusammenhang einlässt, es offenbar auch irgendetwas gibt, was nicht geblieben ist.

Wenn Paulus das so hervorkehrt – „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe“ -, dann tut er das in der Tat vor dem Hintergrund einer Verlusterfahrung. Er und mit ihm die ersten Christen haben schwere Zeiten erlebt. Sie haben bereits die ersten Christenverfolgungen erlebt. Dafür sorgten ein Edikt des Kaisers Claudius im Jahr 44 nach Christus und die ihnen gegenüber grundsätzlich oft skeptisch und feindlich gesinnte Umwelt, deren Menschen an andere Götter, Gewalten und Werte glaubten. Paulus wurde Zeuge, wie Mitchristen der Gewalt, dem Gefängnis und dem Tod ausgeliefert wurden, nur weil sie anders waren und wie sie ansonsten benachteiligt wurden. Wegbegleitende, Freunde und Freundinnen starben in den Fluten von Hass und willkürlicher Gewalt. Und Paulus erlebte das – das können wir uns sicher vorstellen – als schmerzlichen Verlust und fragte sich, was denn nun bleibt? Nicht nur er fragte sich das, sondern die Christen dieser verschiedenen ersten Gemeinden im Römischen Reich. Glauben wir womöglich das Falsche? Sind wir gar von Gott verlassen, wo wir das alles erleben müssen?

Da musste Paulus nach Trost suchen und den Trost zusprechen, der sie alle trug: Es gibt etwas Bleibendes bei all diesen Verlusten, etwas, was diese Verluste und Abschiede überdauert: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Und „die Liebe hört niemals auf“.

Manche von Euch ahnen vielleicht, warum mir diese Zeilen, diese Gedanken des Paulus in diesen Tagen besonders nahe gehen. Ich habe eben vom Sterben der Freunde in den Fluten von Hass und Gewalt gesprochen. In diesen Tagen sind in unserer Nähe im Ahrtal und in der Eifel, im Bergischen Land und bei Erftstadt und Hagen und wo auch immer – also unmittelbar vor unserer Haustüre -, ebenso Menschen in Fluten gestorben. Andere haben von jetzt auf gleich ihr ganzes Hab und Gut verloren. Bei den Einen war es ihre ganze Wohnung, die der Überschwemmung zum Opfer fiel, bei anderen ihr mühsam gebautes Haus, wieder bei anderen ihr eigenes Hotel oder ihr eigener Handwerksbetrieb usw.

An dem besagten Mittwochabend, als die Katastrophe gerade ihren Anfang nahm, war ich auf dem Rückweg vom Bodensee. Auf der Autobahn regnete es heftig. Ich war froh, gleich endlich zuhause zu sein. Als ich zum Tanken noch mal an eine Tankstelle fuhr, bemerkte ich eine Nachricht auf meinem Handy. Ich rief zurück. Es war Frau Hemstedt, die Leiterin unserer KITA, deren Tochter ich erst wenige Tage zuvor getauft hatte und die mit ihrer Familie gerade erst frisch die Wohnung in unser Gemeindezentrum gezogen ist. Sie rief mich an, weil im Wohnzimmer das Wasser von der Decke kommen würde  – genau dort, wo die Lampe ist.

Ich überlegte einen kurzen Moment, was zu tun wäre und wusste, ich muss mir Hilfe holen, jemanden dazuholen. Ich bat nach dem Telefonat einen Freund, mit dazuzukommen, den ich auf dem Rückweg dann zuhause direkt abholte. Das war eine gute Entscheidung. Es tat uns allen gut, als wir dort waren, in diesem Moment der Hilflosigkeit gemeinsam zu beraten, was am besten zu tun wäre und was nicht.

Da der Strom in ganz Rath-Heumar ausgefallen war, ging ich danach dann schließlich einfach früh zu Bett und schlief mich richtig aus. Erst am anderen Morgen, als der Strom auch wieder funktionierte, hörte ich im Radio von den schrecklichen Überschwemmungen und meine Gedanken waren dann sofort bei einem Freund, der in unmittelbarer Nähe der Steinbachtalsperre  bei Euskirchen wohnt. Ich versuchte direkt, ihn telefonisch zu erreichen. Weder auf dem Festnetz noch per Handy war erreichbar und ich befürchtete schon das Schlimmste, aber ich sagte mir: Wenn hier schon das Stromnetz zusammengebrochen ist und sogar Mobilfunk unterbrochen war, könnte es da ebenso gut der Fall gewesen sein. Und so war es auch. Endlich nach fast drei Tagen antwortete er auf meine whatsapp-Nachrichten.

Ich war erleichtert und aus erster Hand erfuhr ich von den Geschehnissen und wie es ihm und den Anderen erging. Ihn selbst hatte es nur vergleichsweise minimal getroffen, andere Verwandte, Nachbarn, Freunde dafür aber umso mehr und er brachte sich dort entsprechend ein. Vor Ort wurde ich nicht gebraucht. Sie haben sich in der Nachbarschaft alle zusammengetan, um sich gegenseitig zu helfen. Aber auf Distanz konnte ich ihm Zuhörender sein – auffangen, trösten, stärken und bestärken und orientieren. Und ich merkte: so viel musste ich das gar nicht tun. Dieses Zusammenstehen in der Nachbarschaft hatte schon längst seine eigene Wirkung entfaltet. Was meine ich damit?

Der Schrecken der Katastrophe wird in dem Moment gebändigt, gemildert, gewandelt, wo Menschen zusammenstehen. Einer wird für den Anderen wichtig. Alle werden einander wichtig. Jeder übernimmt eine Aufgabe, um die Last und Herausforderung gemeinsam zu tragen und zu bewältigen. Und jeder braucht darin auch tatsächlich seine Aufgabe. Denn in dem Moment, wo ich aktiv werde, bin ich nicht mehr nur passives Opfer der Katastrophe, der Angst und der Verzweiflung. Der Freund Frank bei der Steinbachtalsperre, der sich schon in seinem Beruf bei der Bundeswehr mit seinem Organisationstalent hervorgetan hatte, erzählte mir: „Weißt Du, Gerhard, da stand ein 13 jähriger Junge und grübelte und grübelte und stand förmlich im Weg. Dem habe ich erst mal die Aufgabe gegeben, alle Kisten aus dem Keller zu tragen, die er nur tragen konnte.“ „An Dir ist ein Seelsorger verloren gegangen.“ sagte ich schließlich zu Frank.

Auch viele junge Menschen, die gezielt für ganze Tage und länger in die betroffenen Ortschaften gefahren sind und immer noch fahren, um den Menschen mit Schaufel in der Hand oder wie und wodurch auch immer zu helfen, erzählen, wie wohltuend die Menschen das erleben, wie dankbar sie sind und dass Liebe spürbar geworden sei. Diese gemeinsame Erfahrung von Liebe haben Helfende als ihre schönste Erfahrung in den Katastrophengebieten beschrieben.

Als ich das im Radio hörte, kamen mir die Tränen, denn ich dachte: ja, das ist wahrhaftig Liebe, die sich da zwischen den Menschen vollzieht und das sind wahrhaftig die Erfahrungen, die Paulus mit seinen eigenen Worten auf den Punkt bringt und festhält. „Die Liebe hört niemals auf. Nun bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Im ersten Moment mag man nur sich selbst und die eigene Not und den eigenen Verlust sehen, mögen die Gedanken nur darum kreisen. Aber im zweiten Moment wird einem bewusst: Da ist mehr als das Verlorene. Im zweiten Moment sieht man auch die Anderen mit ihrem Leid oder auch die helfende Hand, die tröstlich ist und einen aus der Isolation herausreißt, wie es Unzählige in diesen Tagen erlebt haben, weil es nicht nur den Zusammenhalt untereinander und in der Nachbarschaft befördert hat wie beim Zusammenbruch nach dem Zweiten Weltkrieg , sondern auch ganze Menschenmassen in die Orte als Helfer und Helferinnen gepilgert sind, Dienste angeboten haben. Und wieder andere haben unglaubliche Mengen an Gütern und Geld gestiftet. „Die Liebe hört niemals auf.“ Das ist für viele der Betroffenen in diesen Tagen erfahrbare Wirklichkeit geworden in und nach der persönlichen Katastrophe und das hat ihnen ein Stück Einsamkeit und Trauer um das Verlorene nehmen können.

In einem Fernsehbericht, der im Internet abgerufen werden kann, sah ich ein Ehepaar mit Hund und Katze. Sie hatten überlebt, aber ihr ganzes Haus – alles verloren. Sie hatte es besonders schlimm getroffen, zumal sie erst ein Jahr zuvor ihren Sohn durch eine schwere Krankheit verloren haben. Man merkte ihnen an, dass sie in ihren Blick noch immer ganz auf sich selbst gerichtet haben, mit sich selbst beschäftigt waren, nach innen gekehrt – verständlich natürlich vor dem Hintergrund ihres Erlebens. Dann wurde erwähnt, dass sie ein Notfallseelsorger damit trösten wollte, dass er gesagt habe: „Sie hätten alles verloren – ja, aber sie hätten doch noch sich selbst.“ Diesen Trost konnten und wollten sie so nicht annehmen. Denn gerade das haben sie ja als so schrecklich empfunden: nur noch sich selbst zu haben und allenfalls noch Hund und Katze.

Der Notfallseelsorger verfolgte sicher die besten Absichten mit dem, was er sagte und wer weiß, ob man diese beiden überhaupt mit irgendetwas hätte trösten können, aber es kam nicht an und war eben auch die falsche Botschaft. Denn die hat ja nicht die Isolation des Selbst, diesen narzistischen Blicks auf sich selbst aufgebrochen. Andere Botschaften wären da vielleicht tröstlicher gewesen, die nicht auf das Bleibende ihrer Personen gewiesen hätten, sondern auf etwas Anderes Bleibende – das Bleibende von Glaube, Hoffnung, Liebe. Das wäre dann eher in eine andere Richtung gegangen, so in etwa: Ja, Sie haben Schlimmes erlebt. Aber mit dieser Erfahrung stehen Sie nicht allein. Sie verbindet sie mit vielen anderen Menschen, die nun auch alles verloren haben und die sie hie rum sich herum sehen. Sie versuchen sich gegenseitig zu helfen oder auch anderen zu helfen, die vielleicht noch etwas am Haus retten können und das gibt auch ihnen selbst ein gutes Gefühl. Auch für Ihre Tiere da sein, wird Ihnen helfen. Das wird bleiben, dass wir füreinander da sein können, auch Sie beide füreinander.“ Das wären in etwa meine Worte gewesen.

Ich weiß nicht, wie diese Menschen heißen und habe keine Adresse von ihnen. Die haben sie ja auch selbst nicht mehr. Aber das würde ich ihnen gerne sagen oder schreiben.

Woran hängt das Leben? Die Menschen, die erleben, wie ihnen alles Aufgebaute auf einmal wegbricht und sie dann vor dem Nichts stehen, sind auch uns eine Frage: Die Frage ist nicht nur, was und wer helfen kann und wer das womöglich in schuld war, sondern auch „woran hängt das Leben?“

 

Unser Leben hängt nicht an dem, was wir haben, sondern worin und woraus wir leben. Das Leben hängt an Glaube, Hoffnung, Liebe. Unser materieller Wohlstand will uns manchmal Glauben machen, dass daran unser Leben hinge. In Wirklichkeit hängt es aber an dem, was Paulus „Glaube, Hoffnung, Liebe“ nennt und dieses Elementare erfährt man manchmal leider erst, wenn man in Not ist oder alles verloren hat.

Die Pandemie und die Überschwemmungskatastrophen führen uns vor Augen, wie man nicht nur in Afrika, sondern auch bei uns auf einmal alles im Leben verlieren kann bis hin zu geliebten Menschen, aber dass unser Leben genau daran hängt und sich daraus nährt – aus Glaube, Hoffnung, Liebe. Das ist das, was das Leben ausmacht, zusammenhält, hilft das Leben zu bewältigen, auch mit seinen großen Verlusten. Das ist das Wesentliche, wo auch junge Menschen entdecken: Liebe kann tatsächlich greifbar und gestaltbar sein. Liebe ist nicht einfach nur ein Gefühl zwischen zwei Liebenden, sondern eine von Gott geschenkte Kraft und eine Aufgabe. Das, was wir christliche Nächstenliebe nennen, ist echt, ist sinn- und gemeinschaftsstiftend. Und Liebe kann nicht nur unsere Füße in Bewegung setzen, Richtung Katastrophenorte und verschlammte Häuser, sondern sogar Geld in Bewegung setzen, und zwar in die richtige Richtung.

Die Maxime, ja das Glaubensbekenntnis,  unserer Gesellschaft „Jeder ist sich selbst der Nächste“ hat die letzten Jahrzehnte hingegen ihr Gift so versprüht und die Menschen so infiltriert und geprägt, dass sie gelernt und verinnerlicht haben, aneinander vorbei, nur für sich zu leben – abgeschottet. In der jetzt erlebten Katastrophe können wir entdecken, wie sinnstiftend und wertvoll das ist, was Paulus sagt und wofür er mit seinem ganzen Leben als Christ eingetreten ist: Glaube, Hoffnung, Liebe. Diese führen nicht aneinander vorbei oder gegeneinander, sondern zueinander und in ein Miteinander hinein.

Unter den vielen Helden des Alltags in den Katstrophengebieten wurde ein Mann besonders bekannt – zurecht. Der Baggerführer Hubert Schilles hat unter Einsatz seines Lebens mit seinem Bagger den Abfluss unmittelbar vor der Staumauer der Steinbachtalsperrenbrücke freigeschaufelt. Eine Frau sagte: Er hat sein Leben für unser aller Leben eingesetzt. Das hat sie richtig auf den Punkt gebracht. Das nenne ich Liebe. Das ist Hingabe. Das ist urjesuanisch. Jesus, der sein Leben für die vielen dahingegeben hat.

Es ist ein Geschenk, dass all die Menschen, die bangten und zitterten, dass die Staumauer einbrechen und das Wasser weitere Häuser und Menschenleben zerstören könnte, es christlicher Liebestätigkeit zu verdanken haben, dass das nicht geschah.

Paulus hat Recht: Es bleiben: „Glaube, Hoffnung, Liebe.“ Mich hat bewegt, was der Baggerführer Hubert Schilles in einem Interview gesagt hat: „Wissen Sie, ich bin ein gläubiger Mensch. Ich habe mich zwei Mal gesegnet als ich runter gefahren bin. ,Du Herr, musst wissen, was passiert`, habe ich gesagt. Und ich hatte keine Sekunde Angst.“

Liebe Schwestern und Brüder, der Glaube nimmt uns die Angst vor dem Leben und seinen Herausforderungen. Die Hoffnung glaubt an ein anderes Leben als das, was uns der gottlose und seelenlose, enthemmte Kapitalismus vorgaukeln will und die Liebe führt uns zum Sinn des Lebens, weg von uns Selbst und hin zum Miteinander. Amen