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Vincent van Gogh: Der barmherzige Samariter (copyright: wikimedia)

Predigt am Sonntag, den 11.09.2022

(gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Versöhnungskirche in Köln-Rath-Heumar)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

in dem für den heutigen Sonntag vorgesehenen Predigttext geht es ums Ganze! Um die Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe, von Glauben und Tun. Es ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Eine zentrale Geschichte für unsere christliche Existenz. Ganze Institutionen sind nach ihr benannt. Sie gehört zu den Geschichten der Bibel, die uns sehr vertraut, sehr bekannt sind. Aber gerade das birgt die Gefahr, dass wir nicht mehr wirklich Hörende sind, sondern Vorbeihörende. Wie im langjährigen Zusammenleben mit einem Menschen. Man glaubt schon alles zu kennen. Aber da ist immer mehr, als wir sehen. Wo man glaubt schon alles zu kennen, sieht und hört man nicht mehr genau hin. Wir haben uns diese Geschichte in unserer christlichen Tradition einverleibt, zu unserem Markenzeichen werden lassen. Aber markiert sie wirklich unser Leben? Und trifft sie uns noch in Mark und Bein? Hören wir einfach nochmal bewusst hin:

Im Lukasevangelium Kap. 10, 25-37 heißt es:

Ein Thorakundiger (also jemand, der in den fünf Büchern Mose und den Geboten sehr bewandert war), stand auf, um Jesus eine Frage zu stellen und sprach: „Mein Lehrer, was soll ich tun, um ewiges Leben zu erlangen?“ Jesus aber sprach zu ihm: „Was steht in der Thora geschrieben? Wie liest Du?“ Er antwortete und sprach: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzem Herzen und deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Und Jesus sprach zu ihm: „Du hast recht geantwortet, tue das und Du wirst leben.“ Der Thorakundige aber wollte die Verantwortung dafür von sich weisen und sprach zu Jesus: „Und wer ist mein Nächster? Jesus nahm das auf und sprach:

„Ein Mensch zog von Jerusalem nach Jericho hinunter und fiel unter die Räuber. Die zogen ihn aus und schlugen ihn und gingen davon und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig aber zog ein Priester auf jenem Weg hinunter und als er ihn sah, ging er vorbei. Gleichermaßen kam auch ein Levit an den Ort und als er ihn sah, ging er vorbei. Ein Samaritaner aber, der seines Weges ging, kam dorthin und als er sah, erbarmte er sich. Und er lief hinzu, verband seine Wunden, goss Öl und Wein darauf, setzte ihn auf sein eigenes Reittier und führte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag zog er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sprach: Sorge für ihn, und wenn Du etwas mehr brauchst, werde ich es dir zurückzahlen, wenn ich wiederkomme.

„Wer von diesen dreien, scheint dir, ist dem, der unter die Räuber gefallen ist, zum Nächsten geworden?“.  Er aber sprach: „Der ihm die Barmherzigkeit erwiesen hat.“ Jesus aber sprach zu ihm: „Gehe auch Du hin und tue gleichermaßen.“ Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

zu dieser Geschichte habe ich einen witzig-flapsigen Kommentar bei Lothar Zenetti gefunden. Und zwar: „Also ich finde: Der arme Kerl hat ausgesprochen Schwein gehabt: schon der dritte, der vorbeikam, half ihm. Als ich neulich eine Panne hatte, hielt erst der siebenundzwanzigste. Na ja, so ändern sich die Zeiten.“ Liebe Schwestern und Brüder, wir könnten jetzt ewig darüber philosophieren und debattieren, ob die Gesellschaft erkaltet ist und die Menschen heute tatsächlich unbarmherziger sind als früher, denn bei meinen beiden heftigen Fahrradunfällen innerhalb der letzten zweieihalb Monate war direkt der Erste zur Stelle und half mir auf.

Aber durch solche allgemeinen Grundsatzdebatten würden wir uns die Geschichte, die an unsere Verantwortung appelliert, in Wirklichkeit genauso vom Leibe halten, wie es der Thorakundige auf seine Weise mit seiner Rückfrage zunächst beabsichtigte zu tun, als er zu Jesus sprach: „Und wer ist mein Nächster?“ Tatsächlich scheint ihn ein schlechtes Gefühl zu beschäftigen. Und ich kann es ihm nachfühlen: Da sind so viele Menschen, die Hilfe bräuchten. Die Not in der Welt ist so groß. Ist da meine Hilfe nicht nur ein Tropfen auf einen heißen Stein?

Erst gestern am Neumarkt sah ich sie wieder: Drogenabhängige, mindestens 10 beieinander. Ein jeder mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Und da sind doch noch so viele andere: tausende von Gruppen, die unsere Hilfe, meine Hilfe bräuchten: Kinderkriegsopfer, Ukraineflüchtinge, Kranke, Trauernde, Obdachlose. Wo soll man da anfangen, wo aufhören? Ich kann doch nicht die ganze Welt retten. Ich höre die Frage „Wer ist mein Nächster?“ aus dem Munde des Thorakundigen nicht nur als Ausflucht, sondern sie kann durchaus auch ernst gemeinte Rückfrage sein, die von eigenem Leiden an dieser Welt und eigener Ohnmacht herrührt: So viel Leid und Not in dieser Welt! Wo da nur anfangen? Wie das ändern? Wo kann da meine Nächstenliebe effektiv sein? Allerdings alles Fragen aus meiner, aus unserer Perspektive.

Und so ist die Geschichte, die Jesus nun erzählt ein ernsthafter Antwortversuch und das eigentlich Spannende an der Geschichte ist, dass sie zu einem Perspektivwechsel führt. Das werden wir noch sehen. „Wer ist mein Nächster?“ ist die Ausgangsfrage. Und Jesus erzählt sodann die Geschichte, die doch immer wieder so unter die Haut geht und auch wütend macht, z. B. auf den Priester und den Leviten, die vorbeigehen.

Aber damit ist ja zugleich etwas angesprochen, was viele von uns aus eigener Erfahrung kennen. Der Nächste, derjenige, der in Not ist, hält einen immer auf. Wo ich in der Nächstenliebe gefragt bin, werde ich aufgehalten, brauche ich Zeit.

Nicht selten erlebe ich das persönlich auch so. Da klingelt Einer an der Tür, ein Obdachloser. Er braucht Unterstützung. Und das, wo ich mitten in der Vorbereitung der Predigt oder einer Beerdigungsansprache bin oder wo ich gerade auf dem Sprung bin zu einem Besuch oder Sitzungstermin. Und noch ganz anders halten sie uns auf – die Hilfsbedürftigen – und sind Infragestellung.

Ich denke an die große Gruppe der Menschen mit geringem Einkommen und auch Hartz IV-Empfänger. Es ist ja schon lange Mode geworden, Letztere als Schmarotzer zu bezeichnen und sie damit zu diskreditieren. Die perfekte Verdrängung. Dabei sind sie die größte Anfrage an unser destruktives Wirtschaftssystem. Und die Opfer, die wegen der Wirtschaftssanktionen und des Ukrainekrieges überall eingefordert werden, aber von der Regierung kaum ausgeglichen werden können, belasten diese besonders und werden auch unzählige andere Menschen mit geringem Einkommen in die Armutsfalle treiben. Eine mir sehr vertraute ältere Frau mit geringer Rente, muss nun monatlich über 500 Euro Gaskosten zahlen. Wo soll die das hernehmen? Ein Kredit dürfte ihr kaum gegeben werden und bevor der abbezahlt sein würde, ist sie vielleicht schon verstorben.

Das ist auf die biblische Geschichte bezogen in etwa so: Man hilft dem Schwachen und Gebeugten nicht nur nicht auf, sondern beraubt ihn noch zusätzlich seiner wärmenden Kleidung und lädt außerdem all die anderen neu Verarmten dort am Straßenrande ebenfalls ab, die man opfert um des Krieges willen. Und da können wir es uns nicht so einfach machen und sagen, das sei alles Putin in Schuld. Das ist vielmehr Ergebnis einer eigenen fantasielosen und von geopolitischen und ideologischen Interessen geleiteten Politik, die einen neuen Heiligen Krieg führt und darum in die Irre führen wird. Die politischen Entscheidungsträger sind sich ihrer richtigen Strategie und ihrer ehrenwerten Ziele so sicher wie die damals die deutschen Entscheidungsträger des 1. Weltkrieges. Und deshalb werden alle Andersdenkenden als rechte oder linke Spinner in die Ecke gestellt und in Talk-Shows und anderen Sendungen mundtot gemacht und als Putin-Freunde und Naivlinge dargestellt. Die Geschichte wird zeigen, wer von mehr Naivität gezeichnet war. Fakt ist, dass da auf dem Weg zwischen Jericho und Jerusalem noch unzählige Menschen unter die Räuber fallen werden. Ihnen wird am Ende auch egal sein, wer sie beraubt hat. Sie werden einfach nur schreien nach Hilfe und Erbarmen. Und das wird uns in den Ohren liegen.

Und somit kommen wir zurück zu der Geschichte.

Ich möchte nicht wissen, was der Priester und der Levit alles über den Hilfsbedürftigen gedacht haben mögen. Was sie ihm vielleicht nicht alles unterstellt haben: „Vielleicht ist es nur ein Trick. In Wirklichkeit ist er gar nicht überfallen worden. In Wirklichkeit will er mir nur ans Leder!“ Aber selbst, wo sie keine böswilligen Gedanken gehabt haben mögen, haben die beste Ausrede parat gehabt, die heute viele von uns auf den Lippen führen: „Ich hab keine Zeit.“

Um zu verstehen, was uns die Geschichte eigentlich mitteilen will, liebe Schwestern und Brüder in Christus, müssen wir uns nochmal um ein wenig Geographiunterricht bemühen. Der Weg zwischen Jericho und Jerusalem, war nämlich der Weg zum Tempel, also zu dem Haus Gottes sozusagen. Und eben deshalb werden hier als Beispiele der Priester und der Levit, eine Art Hilfspriester, erwähnt. Damit sagt uns Jesus: Der Weg zu Gott führt nur über den Umweg zum Menschen. Das sagt Jesus nicht etwa einer Priesterkaste, sondern uns allen, die wir nach evangelischem Verständnis ja alle Priester sind, alle auf gleicher Stufe: Gottesdienst gibt es nicht ohne Menschendienst. Und genau das will ja auch das vom Thorakundigen zitierte Gebot sagen. Gottesliebe und Menschenliebe gehören zusammen. Der Samariter, ein Ausländer mit anderen religiösen Verankerungen als die übrige Bevölkerung in Judäa, weiß um diesen Zusammenhang. Er ist damit letztlich ein konkretes Hoffnungszeichen, dass sich in dieser Einheit von Gottesliebe und Nächstenliebe alle Religionen wiederfinden können. Und eben das: Wer Zeit für Gott hat, hat auch Zeit für die Menschen. Und umgekehrt: Wer einem Menschen Zeit schenkt, gibt der Liebe Gottes Raum.

Und trotzdem höre ich die Klage:  „Ich kann nicht allen gleichzeitig helfen“. Aber das ist gar nicht gefragt. Gefragt ist vielmehr ein Perspektivwechsel. Das ist die Antwort Jesu auf die Frage des Thorakundigen: „Wer ist mein Nächster?“

Und dazu ist es gut, das Pferd einmal von hinten aufzuzäumen, die Geschichte von hinten zu lesen. Dort am Schluß fragt Jesus nämlich: „Wer von diesen dreien, scheint dir, ist dem, der unter die Räuber gefallen ist, zum Nächsten geworden?“ Die Ausgangsfrage des Thorakundigen, dem Jesus diese Geschichte erzählte, war ja eine andere: „Wer ist mein Nächster?“ fragte er. Durch seine Rückfrage ändert Jesus die Perspektive. Beim oberflächli­chen Lesen oder Hören merken wir diesen Unterschied vielleicht zunächst gar nicht, aber aus der Frage: „Wer ist mein Nächster?“ wird die Antwort: „Mein Nächster ist derjenige, dem ich zum Nächsten werde.“ Nicht meine Perspektive ist also entscheidend, wen ich alles beglücken will oder nicht beglücken kann? Sondern die Perspektive des Anderen und das, was zwischen uns passiert. Nächster – darin steckt das Wort Nähe. Und es hat in der Tat etwas mit Zulassen von Begegnung, von Nähe, zu tun.

Wir sind heute geneigt, Nächstenliebe professionellen Hilfsorganisationen zu überlassen. Es verleitet dazu, wegzuschieben und eigene Verantwortung abzugeben. Wir sind aber in dieser entscheidenden Frage nach wie vor gefragt. Nächstenliebe kann man nicht delegieren. In die Nähe begebe ich mich entweder hinein oder nicht. Das sind Erfahrungen, die wir in vieler Weise auch auf Gemeindeebene machen können: Die Arche Königsforst, unser Wohnhaus an der Eiler Str. für Wohnungslose, die sich weiter stabilisieren wollen, ist ein Objekt, wie man so schön im Baudeutsch sagt. Das Ganze ist unser Projekt. Aber damit ist die Arbeit nicht getan. Die Menschen dort sind weder Objekte unserer Hilfeleistung, noch Projekte gut gemeinter Pfadfindertaten. Sie fordern vielmehr unsere Nähe und nur indem wir uns wirklich darauf einlassen, auf ihre Perspektive, gelingt auch die Begegnung, entsteht ein Stück Hoffnung und wir werden ihnen zum Nächsten.

So ist es auch auf anderen Ebenen, bei den Geburtstagsbesuchen älterer Gemeindemitglieder, bei der Begleitung von Flüchtlingen in unserer Gemeinde oder wo auch immer. Entscheidend ist die Entstehung von Nähe und Wärme, weil es einen Perspektivwechsel gibt. Diese Menschen fühlen sich gesehen. Und wir sehen nicht mehr nur auf unsere Zeit oder stellen die überflüssige Frage: Wer ist unser Nächster, sondern nehmen wahr: Wir sind es für Andere längst geworden. Nicht unser Blick ist entscheidend, sondern ihr Blick. Da wächst Glaube, Hoffnung, Liebe.

Im 1. Korintherbrief Kap. 13, Vers 13 bringt Paulus die Quintessenz von Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter auf den Punkt. Er schreibt dort: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe. Die Liebe aber ist die Größte unter ihnen.“

Erst die Liebe bewirkt Nähe und Perspektivwechsel könnte man sagen. Und das brauchen wir in unserer Welt immer wieder, denn es ist der Boden unseres Zusammenlebens. Und jetzt darf ich auch verraten, dass dieses Zitat aus dem Korintherbrief der von Euch gewählte Taufspruch für Mila ist, lieber Tim und liebe Madeleine.

Du hast die Wahl so schön begründet: „Das war schon der Taufspruch meiner Oma. Das war mein Taufspruch und auch mein Konfirmationsspruch. Das war auch unser Trauspruch und das soll nun auch der Taufspruch unserer Tochter Mila werden. So zieht sich der Spruch wie ein roter Faden durch unser ganzes Leben. Ein schöner Gedanke, dass alle darin verbunden sind “ So in etwa waren deine Worte.

Und in der Tat kann es für ein Miteinander in Partnerschaft und Familie ja kaum eine bessere Basis geben als diese. Nicht nur die Basis von Glaube und Hoffnung, sondern auch von Liebe, die Nähe wagt und immer wieder aus dem Blickwinkel des jeweils Anderen die Welt betrachtet und nun auch die Welt der kleinen Mila.

Sie stellt die Welt auf den Kopf. Sie ist kürzlich nicht nur als Frechdachs Nummer 1 in der KITA gekürt worden, sondern fordert Eure Geduld, Sanftmut und Eure Standhaftigkeit auch zuhause immer wieder heraus. Nächstenliebe kann nicht delegiert werden, wie ich es schon sagte. Der Nähe der Liebe kannst Du nicht ausflüchten, wie an Bildschirmen. Sie lebt im unmittelbaren Miteinander. Auch in deinem Schulalltag als Lehrerin erlebst du das immer wieder, Madeleine. Aber etwas Besonderes ist es nun mit Mila. Sie verwandelt Eurer Leben. Fußball, Fernreisen – das waren alles schön Dinge, bevor Mila kam. Aber nun ist sie da und beansprucht euch voll und ganz. Und Tim, Du hast das so schön auf den Punkt gebracht: „Es ist nichts mehr wie vorher. Aber wir würden es genauso wieder machen. Wir sind so glücklich mit ihr, bei allem, was sich geändert hat.“

Heute taufen wir Mila, nachdem ihr vor fünf Jahren in Euer Haus gezogen seid. Ihr habt ein Nest bereitet, das ihr entsprechend umgebaut habt, auch das eine große Anstrengung. Aber alles kommt in der Liebe zum Ziel, denn die Liebe ist das Größte. In diesen Bund von Glaube, Hoffnung, Liebe wird Mila heute aufgenommen und wir freuen uns, dass wir, die Großeltern, die Angehörigen und Paten und ganz besonders unsere Gemeinde freuen uns, das heute hier und jetzt mit Euch erleben dürfen. Denn mit dem Liebesbund Gottes auf dieser Welt muss es unbedingt weitergehen – mit Mila und allen Anderen, die dazu kommen. Amen