You are currently viewing Predigt für den 26.08.2020, 7. Sonntag n. Trinitatis
Bumerang: Karenfoleyphotography | Urheber: karenfoleyphoto - stock.adobe.com Urheberrecht: ©2015

Predigt für den 26.08.2020, 7. Sonntag n. Trinitatis

(von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

vermutlich hat noch nie jemand von Euch von Robert Green Ingersoll gehört. Er zu einem der berühmtesten Vortragsredner seiner Zeit und wurde wegen seiner herausragenden Rhetorik in einem Atemzug mit Mark Twain und Charles Dickens genannt. Er lebte im 19. Jh. in den USA, war aber in Dresden geboren und Sohn eines deutschen Auswanderers. Ingersolls Vater John war ein presbyterianischer Geistlicher, der wegen seines Eintretens gegen die Sklaverei oft seinen Wirkungsort wechseln musste. Robert Green Ingersoll selbst wurde Rechtsanwalt und Politiker, seine Tochter Eva Ingersoll Brown wurde eine bekannte Frauenrechtlerin. Ihr und anderen Frauen verdanken wir die verhältnismäßig frühe Einführung des Frauenwahlrechts in den USA, die in einigen anderen Demokratien noch lange auf sich warten ließ. Wir merken, eine spannende Familie, deren drei Generationen offensichtlich alle mit einem wachen, kritischen Geist gesegnet waren.

Robert Green Ingersoll, dessen Gedanken ich Euch heute besonders ans Herz legen möchte, war sogenannter Agnostiker. Im Gegensatz zu einem Atheisten ist ein Agnostiker nicht jemand, der die Existenz eines Gottes bestreitet oder Gott bewusst ablehnt, sondern einer, der offen lässt, ob es einen Gott gibt oder nicht. Es ist aber kein Gleichgültiger. Im Gegenteil. Er macht sich sehr viele Gedanken über Gott, mehr als mancher Christ. Die Frage „Gibt es einen Gott?“ beantworten Agnostiker nicht mit „Ja“ oder „Nein“, sondern mit „Ich weiß es nicht“, „Es ist nicht geklärt“, „Es ist nicht beantwortbar“ oder ähnlichem. Und das tun sie eben nicht etwa, weil sie zu faul zum Denken wären oder zu schwach zum Glauben, sondern weil sie sehr viel fragen und denken und dabei immer wieder zu dem Ergebnis kommen, dass unser Erkennen und Wissen nur Stückwerk ist, eben begrenzt ist, insbesondere was die Frage nach Gott betrifft. Der Begriff Agnostizismus stammt aus dem Griechischen und müsste übersetzt am ehesten übersetzt werden mit „Nicht-Erkennbarkeit“

Agnostizismus ist also eine Weltanschauung, die insbesondere die prinzipielle Begrenztheit menschlichen Wissens, Verstehens und Begreifens betont. Also nicht unbedingt die Existenz eines göttlichen Wesens leugnet oder in Frage stellt, sondern eher die menschliche Hybris, immer zu wissen, wer Gott ist und was er will und dabei doch letztlich nur eigene Interessen zu verfolgen.

Robert Green Ingersoll hat seine eigene Weltanschauung nicht etwa in Auseinandersetzung mit seinem eigenen Vater, der ja Pfarrer war, geführt. Dieser hatte selbst einen kritischen und weitsichtigen Geist, sondern in Auseinandersetzung mit der Kleingeistigkeit der fundamentalistischen Einstellungen  evangelikaler Freikirchen und Christen, die dem Vater das Leben erschwert haben und wie wir sie heute noch aus den USA kennen. Seine kritischen Schriften und Reden, die religionskritischen Charakter hatten, sind nicht Auseinandersetzung mit seinem Vater, dem er im Gegenteil sehr viel an Erkenntnissen und kritischem Geist zu verdanken hatte, sondern mit eben diesen Gruppierungen und ihren religiösen Strukturen und oberflächlichen Theologie. Einer seiner Schriften hieß: „What’s God Got to Do with It?“ zu deutsch also: „Was hat Gott damit zu tun?“

Robert Green Ingersoll trat zum Beispiel für eine konsequente Trennung von Staat und Kirche in Politik und Verfassung ein, ähnlich wie wir das von der französischen Demokratie her kennen.

Sein Freund und Wegbegleiter Alois Zotz, der seine religionskritischen und anderen Schriften herausgegeben hatte, war übrigens ursprünglich römisch-katholischer Priester, der in Österreich geboren war und nach einer Wirkungszeit in Rottenburg sein Priesteramt aufgab und in die USA emigrierte. Dort gründete er in Illinois die erste deutschsprachige Zeitung mit dem Namen “Demokrat”.

Die Freidenker Zotz und Ingersoll gehörten der republikanischen Partei an. Die hatte aber damals noch völlig anderen Charakter als heute und ist damit nicht gleichzusetzen.

Warum rede ich von Ingersoll? Warum habe ich den aus der Geschichte ausgegraben? Warum ist der so wichtig?

Weil wir ihm ein Zitat verdanken, das uns einen Zugang zum Verständnis des Bibeltextes gibt, der  für die heutige Predigt vorgesehen ist. Das Zitat hat mich aber schon lange in meinem Leben begleitet.

Damals las ich es als 18 jähriger in diesem Musikalbum einer meiner Lieblingsgruppen (Lol Creme und Kevin Godley) , die intelligente, humorvolle und stilvolle Rockmusik machten mit hohem künstlerischen Niveau. Das vor also vor ziemlich genau 40 Jahren schon. So lang ist mir das Zitat schon vertraut.

Lol Creme u. Kevin Godley, Consequences – Musikalbum von 1977

 

Überhaupt ist Ingersoll bekannt für seine Rhetorik und prägnante Sprüche. Einer von ihnen ist übrigens der folgende, den ich ebenso sehr schätze: „Es ist tausend mal besser, einen gesunden Menschenverstand ohne gute Ausbildung zu haben, als eine gute Ausbildung ohne gesunden Menschenverstand.“ Wie wahr, wie wahr!

Aber nun möchte ich zunächst den Bibeltext benennen, der im Zentrum der heutigen Predigt steht, bevor ich dann auf das von mir angekündigte wertvolle Zitat von Ingersoll komme.

Im 5. Buch Mose, oder auch Deuteronomium genannt, Kap.11, Verse 26-28 heißt es: Mose sprach:Siehe, ich lege euch heute vor den Segen und den Fluch: den Segen, wenn ihr gehorcht den Geboten des HERRN, eures Gottes, die ich euch heute gebiete; den Fluch aber, wenn ihr nicht gehorchen werdet den Geboten des HERRN, eures Gottes“.
Von Fluch und Segen hören wir oft im Zusammenhang mit dem Gedanken eines strafenden Gottes. „Der ist verflucht“ wird auch manchmal gesagt und man will dann oft zum Ausdruck bringen, dass auf diesem Menschen eine Strafe Gottes lastet, ja so schwer und unveränderbar lastet wie ein Zauber. Manche Menschen sind auch mit Verfluchungen oder Strafandrohungen Gottes, der einen verfluchen würde, wenn man nicht dieses oder jenes tut oder endlich aufhört dieses oder jenes zu tun, als Kind oder Jugendliche aufgewachsen und haben darunter auch gelitten. Sie sind bis heute im Unfrieden mit solch einem Gott geblieben bzw. mit solch einer Vorstellung von Gott, die dahinter steckt – verständlich.

Heute ist das bei uns nicht mehr so verbreitet. Aber wo man das wie mit der Muttermilch aufgesogen hat, hat das doch sehr geprägt und auch unser aller Verständnis von einem strafenden Gott und dem, was wir „Strafe Gottes“ nennen. Das betrifft auch ein ganz bestimmtes landläufig weit verbreitetes Bibelverständnis.

 Viele kennen das Alte Testament nur als Negativfolie zum Neuen Testament. Das Neue Testament sei das Testament des liebenden Gottes, das Alte das des strafenden Gottes. Ich habe schon als Jugendlicher diese Gegenüberstellung nicht verstanden, denn nach dieser Logik müsste unser Gott ja ein Identitätsproblem haben. Warum sollte er sich auf einmal von einem strafenden zu einem liebenden Gott entwickeln? Nein, das sind Zuschreibungen von schlechten Theologen, die recht oberflächlich auf beide Teile der Bibel schauen und in polemisch-apologetischer Absicht das Alte Testament abwerten möchten, um die Überlegenheit des Christentums gegenüber dem Judentum darzustellen.

Hier der strafende, da der liebende Gott ist eine völlig falsche Zuschreibung, die sich einer judenfeindlichen und das Alte Testament verachtenden Leseweise verdankt. In dem alttestamentlichen Bibelvers aus dem 5. Buch Mose werden wir darüber aufgeklärt, dass dem Halten der Gebote nicht Belohnung folgt und dem Nicht-Halten der Gebote nicht Strafe, aber dass die Einhaltung der Gebote Segen nach sich zieht und der Verstoß hingegen Fluch. Was soll das heißen, Wie ist das zu verstehen?

Mose sagt, er legt ihnen (also den Zuhörenden) Segen und Fluch vor. Besser übersetzen müsste man wohl: er hält ihnen das vor Augen: Also noch mal:

Mose sprach:Siehe, ich halte euch heute vor Augen den Segen und den Fluch: den Segen, wenn ihr gehorcht den Geboten des HERRN, eures Gottes, die ich euch heute gebiete; den Fluch aber, wenn ihr nicht gehorchen werdet den Geboten des HERRN, eures Gottes“. Ist das Belohnung und Strafe Gottes oder was ist das?

Und hier kommt nun das Zitat von Ingersoll zum Tragen, das uns einen Zugang vermitteln kann zu dem, was hier eigentlich ausgedrückt werden soll.

Ingersoll sagt: „In Nature there are neither rewards nor punishments. There are only consequences.“ In der Natur (man könnte auch sagen in Gottes Schöpfung) gibt es weder Belohnungen noch Bestrafungen. Es gibt dort nur Folgewirkungen.“

Nochmal: „In der Natur gibt es weder Belohnungen noch Bestrafungen. Es gibt dort nur Folgewirkungen.“ Wenn wir das als eine Beobachtung in der Natur ernst nehmen – und daran dürfte wohl kaum ein Zweifel sein – dann merken wir, was für eine aktuelle Brisanz dieses Zitat von Ingersoll hat. Es macht uns bewusst, dass jedes Geschöpf, jedes Lebewesen, alles Existierende einen Einfluss aufeinander hat. Und verändern sich die Lebensbedingungen, wird beispielsweise bestimmten Lebewesen die Grundlage ihrer Existenz geraubt, so hat das wieder seine Auswirkungen auf übrige Lebewesen und Umwelt. Dazu gehört das dramatische Bienensterben als Zeichen der Störung des ökologischen Gleichgewichts zum Beispiel genauso dazu wie die unverhältnismäßige Zunahme der Borkenkäfern in unseren heimischen Wäldern, die katastrophale auf die Auswirkungen Baumflora und die Nutzung des Holzes hat. Das hat mir Herr Cohnen, der Förster des Königsforstes ausgiebig auseinandergelegt und entsprechend beklagt. Diese Dinge sind nur die Vorboten einer schon lange drohenden und im Gang befindlichen Naturzerstörung und Klimakatastrophe. Ingersoll hält nüchtern fest, dass es zu den Naturgesetzen und zur Natur gehört, dass das eine auf das Andere folgt. Alles Leben und Sterben bedingt und beeinflusst sich gegenseitig und zieht seine Kreise, wenn man so will, im Guten wie im schlechten. In der Natur gibt es diese moralischen Kriterien „gut“ und „schlecht“ gar nicht. Es ist darum auch Unsinn da von Belohnung oder Strafe zu sprechen.

Das gibt uns einen Schlüssel zum Verstehen, was hier im 5. Buch Mose eigentlich gesagt werden soll, was eigentlich die Botschaft ist. Denn auch hier geht es nicht um Belohnung oder Strafe, sondern um die natürlichen Folgen.

Im Blick auf das Alte Testament, sprechen die Wissenschaftler des Alten Testaments auch gerne vom sogenannten Tun-Ergehen-Zusammenhang statt eben vom „strafenden Gott“. Wie es uns ergeht nachdem wir uns so oder so verhalten haben, ist nicht abhängig von einem strafwilligen Gottes oder etwa das Ergebnis eines strafwütigen Gottes, sondern davon wie weit unser Verhalten oder das unserer Väter seine positiven oder negativen Auswirkungen zeigt.

Das aus deutscher Geschichte bekannteste Beispiel ist ja das der Nazizeit – die Väter und Mütter haben sich so lebenswidrig und menschenverachtend verhalten, dass alle Nachkommenden die Konsequenzen tragen mussten.

Das ist das, was hier im 5. Buch Mose gemeint ist.

Siehe, ich halte euch heute vor Augen den Segen und den Fluch: den Segen, wenn ihr gehorcht den Geboten des HERRN, eures Gottes, die ich euch heute gebiete; den Fluch aber, wenn ihr nicht gehorchen werdet den Geboten des HERRN, eures Gottes“.

Wir können Leben so gestalten, dass es zum Segen gereicht, dass weiteres Gelingen daraus erwächst. Wir können Leben aber auch so gestalten, dass es zum Fluch wird, dass es also vernichtende Folgewirkungen hat, denen niemand so leicht entgehen kann.

Das Halten der Gebote Gottes, führt zum gelingenden Leben, zum Segen. Die Abwendung von diesen Geboten bringt Tod und Vernichtung – das, was mit dem Wort Fluch bezeichnet werden soll.

Dem Alten Testament geht es also nicht um Strafe oder Belohnung, sondern schlicht um die Folgewirkungen des Tuns. Und wie man am Beispiel eines Verses aus dem Kolosserbrief sieht, ist genau diese Vorstellung durchaus auch im Neuen Testament zu finden. Da heißt es in Kap 3, Vers 24 ganz ähnlich: „Dient dem Herrn Christus! Denn wer unrecht tut, der wird empfangen, was er unrecht getan hat.“ Auch hier ist gemeint, dass uns die Folgewirkungen in meinem Leben oder dem meiner Nachkommen einholen.

Und dafür dürften wir doch heute ganz nachvollziehbare Beispiele vor Augen haben, sowohl, was Corona betrifft als auch unseren Umgang mit der Umwelt. Bestimmte Verhaltensweisen haben irgendwann ihren Bumerangeffekt. Die Folgen des Tuns holen uns ein.

Ehrlich gesagt: Genau so muss es sein, damit der Mensch anfängt, nachzudenken und zur Räson kommt und damit den Schädigenden und den Schäden Grenzen gesteckt werden.  Nur so lernen Menschen Verantwortung zu übernehmen, indem man sie mit den Folgen ihres Tuns konfrontiert. Strafe und Belohnung würden rein gar nichts bewirken, jedenfalls nicht zu einem verantwortungsbewussten Menschen führen. Denn der würde ja nur immer dann reagieren, wenn er gerade einen Vorteil (einen Lohn) davon hat oder einen Nachteil (eine Strafe) befürchten muss. Da lobe ich mir unseren Gott, der uns in unserer Verantwortung für Segen und Fluch und damit für dieses Leben belässt. Amen