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Agathe Dora Wenzel mit ihrem Sohn Pfarrer Wenzel als Baby

Predigt am Sonntag Lätare – 27.03.2022

(gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Versöhnungskirche in Rath-Heumar und der Auferstehungskirche in Ostheim)

Der Friede und die Gnade Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

eigentlich hatte ich einen der für den heutigen Sonntage vorgeschlagenen Bibeltexte für die Predigt ausgewählt. Es wäre der gewesen, wo erzählt wird, wie Petrus Jesus nach seiner Verhaftung heimlich folgt und im Innenhof des Gerichtes des Hohen Rates wartet, aber darauf angesprochen, dass er doch auch zu Jesus gehöre, drei mal leugnet, ihn zu kennen, bevor dann schließlich früh am Morgen der Hahn kräht.

Es ist nicht so, dass mir dazu nichts eingefallen wäre. Aber ich habe gemerkt, dass ich innerlich nicht in der Lage bin, dazu zu predigen. Ich bin innerlich ganz woanders. Am Donnerstagabend ist meine Mutter gestorben.

Für sie eine Erlösung, denn die letzten Wochen vegetierte sie mit ihren fast 92 Jahren im Bett förmlich dahin. Mehr oder minder dement seit nun schon etwa 10 Jahren infolge eines Schlaganfalls und nun zuletzt kaum noch sehend und hörend und ohne, dass sie noch einen Schritt gehen könnte. Ich bin froh, sie noch letzten Samstag in Lüdenscheid, wo sie in einer Senioren-Wohngemeinschaft in der Nähe meines Bruders lebte, besucht zu haben.

Ich bin in diesen Tagen in Gedanken verständlicher Weise sehr bei meiner Mutter. Obwohl es eine Erlösung ist, ist es doch meine Mutter und die Trauer ist immens groß, weil ich zu meiner Mutter ein ganz besonders intensives Verhältnis hatte, ganz anderer Art als zu meinem Vater.

Und deshalb möchte ich heute zu dem Bibelwort predigen, das es vor wenigen Jahren, nämlich im Jahr 2016 als Jahreslosung gab, also ein Bibelwort, das uns das ganze damalige Jahr über begleiten sollte. Im Prophetenbuch Jesaja heißt es in Kapitel 66, Vers 13 aus dem Munde Gottes an das Volk Israel gerichtet: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“

Wir befinden uns im Augenblick in der Passionszeit, also in der Leidenszeit Christi. Und wir befinden uns schon immer in der Leidenszeit einer ganzen Welt, weil uns Gewalt, Ungerechtigkeit und Krieg seit Anbeginn der Menschheit immer wieder einholt, wie in diesen Tagen auch in der Ukraine. Wo so viel Leid ist, da braucht es umso größeren Trost.

Deshalb ist nicht nur das Leid Thema in der Passion, sondern es gehört auch dazu die Frage nach dem Trost. „Wer und was kann mich trösten?“ war nicht nur die Frage Christi auf seinem Leidensweg, sondern ist auch immer wieder die Frage auf unseren persönlichen Leidenswegen und auch in den großen politischen Leidensszenarien, wie jetzt auch für so viele Menschen im Ukraine-Krieg.

„Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ hören wir aus dem Munde Gottes.

So viele Menschen sagen immer wieder: „Ich habe die ganze Zeit gebetet, aber Gott hat mein Gebet nicht erhört. Sie erleben sich als untröstlich. Aber ich glaube, dass Gott uns noch auf andere Weise tröstet, außer dass er vielleicht genau unseren Gebetswünschen folgt, die wir vor ihn legen. Er ist wie eine Mutter, die auf viele Weisen trösten kann. Gott kann nicht unbedingt die Wünsche unserer Gebete erfüllen, aber Gebet hebt unsere Einsamkeit auf. Wir verändern uns dadurch und finden Kraft und dadurch ändert sich am Ende auch manche Wirklichkeit.

Meine Mutter hatte zwei griechische Vornamen. Ob ihre Eltern sich der Bedeutung bewusst gewesen sind und sich dabei etwas gedacht haben oder nicht, weiß ich nicht. Des Griechischen waren sie jedenfalls nicht mächtig. Sie heiß Agathe Dora, wortwörtlich übersetzt: „Die gute Gabe“. Und genauso habe ich sie erlebt, wie eine gute Gabe Gottes.

Das, was Mütter am besten können, ist nicht kochen, sondern trösten. Männer zerstören und führen Kriege. Frauen und insbesondere Mütter trösten. So ist das in der Geschichte bisher meist gewesen und auch aktuell im von Putin begonnenen Ukrainekrieg so. Er ist von Männern gemacht und von Frauen und Müttern beweint.

„Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ hören wir aus dem Munde Gottes übermittelt durch den Propheten als Botschaft an das leidende Volk Israel, damit aber auch an jedes leidende Volk auf dieser Erde und jeden leidenden Menschen.

Gott oder der Prophet bzw. Schreiber des Prophetenbuches knüpft damit an unsere existentiellen Erfahrungen an, die wir als Menschen mit unseren Müttern machen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Es gibt Menschen, die ihre Mütter eher als gefühlskalt oder hart erlebt haben. Aber das dürfte sehr untypisch für eine Mutter sein und in ihrer jeweiligen eigenen untröstlichen Biographie begründet sein, wo sie mit erlebtem Leid völlig überfordert war und niemand da war, um sie zu trösten. Solche Menschen legen sich oft eine harte Schale zu.

Es ist die große Ausnahme und nicht das Normale. Das Normale ist die mitfühlende, tröstende Mutter. Der Trost der Mutter beginnt schon damit, dass es die Mutter ist, die uns zur Brust nimmt und nährt. Und selbst wenn wir die Flasche statt der Brust als Baby bekommen, so sitzen wir doch auf dem Arm und am warmen Körper der Mutter, in dem Moment, wo wir trinken.

Das schönste Foto (siehe Foto oben), das ich von meiner Mutter habe, ist das, wo man sie – ähnlich der Mutter Maria mit dem Jesuskind – sieht, wie sie mich als Baby gerade auf dem Arm haltend zu ihrer Brust nimmt in ihren jungen Jahren. Man sieht die entblößte Brust und ihren mir nach unten zugeneigten Kopf – ihr zugewandtes Gesicht. Das Bild steht auf meinem Schreibtisch, nachdem es mir meine Mutter im Jahr 2015 zum Abschluss meiner Doktorarbeit geschenkt hat und berührt und beschäftigt mich in diesen Tagen immer wieder.

Das Bild hält das fest, was eine Mutter tut. Sie schenkt Leben vermittelt durch unseren guten Gott und sie versucht, dieses Leben zu bewahren und last but not least, sie tröstet.

„Jemanden zur Brust nehmen“ hieß ursprünglich im übertragenen Sinn nicht etwa, wie heute sehr verbreitet, mal mit jemandem ein Gespräch mit Überzeugungskraft führen, sondern tatsächlich jemanden trösten. Das begegnet auch wortwörtlich so im Jesajatext im Zusammenhang des genannten Verses. Da heißt es in Vers 11: „Nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes.“

Hunger stillen und trösten ist ein und dasselbe bei Müttern und eben auch gerade bei Gott. Er ist wie eine Mutter.

Alle kennen diese Erfahrung, aber zugleich ist das, was da bei Jesaja zu hören ist, relativ revolutionär. Denn dass Gott weiblich sei oder zumindest auch weibliche Attribute hat, war in den damaligen patriarchalischen Gesellschaft biblischer Zeiten nicht selbstverständlich. Gott war für viele in ihrer Vorstellungswelt ähnlich wie bei vielen noch heute selbstverständlich ein Mann, also allenfalls ein Vater, aber nicht unbedingt eine Mutter. Weshalb wir ja auch das „Vater Unser“ beten, wo wir eigentlich ebenso „Mutter, unsere“ beten könnten.

Wie dem auch sei. Meine Kollegin Andrea Stangenberg-Wingerning, der ich den Tod meiner Mutter mitteilte, hat auch mein Empfinden richtig getroffen, als sie mir schrieb: „Mir geht es immer noch sehr nach, dass meine Mutter nicht mehr da ist. Auch wenn man selbst schon „groß“ ist, bleibt man immer Kind.“ Und ein Freund von mir aus unserer Gemeinde – Peter Schmidt, der hier in Ostheim oft an den Gottesdiensten teilnimmt, hat mir ebenso mitfühlend geschrieben: „Die Mutter ist das Liebste im Leben.“

Ja, so ist es und weder Peter Schmidt noch ich, sind das, was man gerne despektierlich „Muttersöhnchen“ nennt. Vom Rockzipfel haben wir uns beide gut und schnell gelöst.

Es geht hier vielmehr um die tiefe Dimension, was es bedeutet „Leben geschenkt zu bekommen und Geborgenheit und Trost zu erfahren, wie eben schon beschrieben.

Die Bibelstelle im Jesajabuch ist nicht die einzige Bibelstelle, wo Gott mit einer Mutter in Verbindung gebracht wird, insbesondere, was die Geborgenheit und den Trost betrifft: In Psalm 131  heißt es: „Stille habe ich gefunden wie ein gestilltes Kind bei seiner Mutter“ und das wird unmittelbar in Zusammenhang mit der Hoffnung auf Gott gebracht: „Israel, hoffe auf den HERRN von nun an bis in Ewigkeit.“ Also auch hier das Bild von Gott, der Hoffnung schenkt, indem er tröstet wie eine Mutter – auch in diesem Fall das Volk Israel.

Die Leidenden und Bedrängten in dieser Welt suchen die Geborgenheit und den Trost, den man mit einer Mutter verbindet.

Wie tröstet sie? Wenn wir darauf schauen, dann haben wir eine Ahnung davon, wie Gott tröstet.

Wenn ich das Foto meiner Mutter anschaue, wie sie mich auf den Armen und an der Brust die ersten Male getröstet, dann denke ich auch an die vielen anderen Male, wo sie mich getröstet hat.

Meine Mutter hat drei Kinder zur Welt gebracht und groß gezogen und keines von uns irgendwie bevorteilt, aber sie hat mir mal erzählt, dass sie um mich als Kind am meisten Angst gehabt hätte. Das lag zum einen daran, dass ich mich schon früher ziemlich unerschrocken und angstfrei in der Welt bewegt, erprobt und umgeschaut hatte, und sie mich manchmal z. B. einige Straßen weiter suchen musste, wenn ich mit den Plastiktraktor entschwunden war. Ein anderes mal hatte ich mir durch meine Waghalsigkeit eine Verletzung an der Nase zugezogen, auf die ich gefallen war. Sie musste genäht werden. Der andere Grund ihrer nicht unberechtigten Angst um meine leibliche Unversehrtheit lag aber darin begründet, dass es sowohl in der Siedlung, wo ich die ersten 7 Lebensjahre verbrachte als auch in der , wo wir dann später wohnten, jeweils einen um mehrere Jahre älteren Jungen in der Nachbarschaft gab, der sich einen Spass daraus machte, mich körperlich immer mal wieder zu quälen.

Wie tröstet eine Mutter? Ich kann sagen, dass ich in diesen erlebten Ohnmachtserfahrungen der körperlichen Übergriffe dieser Jungen, vor allem bei denen in der ersten Siedlung, nur meine Mutter und den lieben Gott als einzigen Trost in meinem Leben hatte.

Wie hat meine Mutter mich getröstet? Es war meine Mutter, die mich mit blutender Zunge zuhause empfing und schließlich von der Zange des Schaffnerspiels befreite, mit der der ältere Junge Spasses halber mal eben meine Zunge wie eine Fahrkarte gelocht bzw. entwertet hatte. Es war meine Mutter, die mich von der Straße aufhob und auf ihren Händen etwa einen halben Kilometer nach Hause getragen hatte, nachdem ich da mit meinen 5 oder 6 Jahren blutend am Boden lag, weil derselbe Junge mich mit seinem Fahrrad verfolgt und mich gejagt hatte bis ich stürzte. Es war meine Mutter, die mir ein Pflaster gab und eine Salbe auftrug und lange in den Arm nahm, nachdem dieser Junge mir in die eine Ferse mit einem Luftgewehr geschossen hatte und in die andere Verse mit einem Dartspfeil geworfen hatte.

„Mama“ hatte ich immer geschrien. Meine Mutter habe ich bis heute nie Mutter oder Mutti genannt. Das war mir immer viel zu unpersönlich – sondern immer Mama, wie früher als ich leidend und des Trostes bedürftig war.

Worauf will ich mit diesen Erzählungen hinaus? Meine Mama und der gute Gott, von dem ich damals nicht viel wusste, aber spürte, dass er auf meiner Seite war, waren die einzigen, die in der Ohnmacht da waren. Und sie waren auch nicht direkt da. Es war ein wahres Martyrium, ein wahrer Leidensweg, eine wahre Passion wie die Passion Christi. So habe ich jedenfalls als Kind meine Hilflosigkeit und Ohnmacht erlebt und kann Manches auch erst heute erinnern und darüber sprechen, weil ich es traumatisierungsbedingt verdrängt habe.

Ich will darauf hinaus, dass der gute Gott oder meine Mama das Leid nicht einfach weggezaubert hatten. Sie konnten es nicht einfach verschwinden lassen. Gegen diesen Jungen war offenbar selbst seine eigene Oma hilflos, die alles versucht hatte, um ihn auf die rechte Bahn zu bringen, aber keinen Erfolg hatte.

Gott, der wie meine liebe Mama tröstet und meine Mama, die wie der liebe Gott tröstet, konnten nicht unmittelbar die Quelle des Leidens beseitigen. Aber sie haben den Schmerz gelindert, Solidarität und Geborgenheit vermittelt in Wort und Tat und haben dadurch Hoffnung gepflanzt. Das war ihr Trost.

So kam es, dass mir Christus mit seinem Kreuz, als Kind, das dasselbe erlebt hat wie er selbst, sehr nahe gekommen ist, sehr nahe geworden ist. Für mich ist das Kreuz nicht wie für so manch andere ein Stein des Anstoßes und ein Hinweis darauf, dass wir einen sadistischen Gott hätten, sondern das Gegenteil – es ist mein einziger Trost im Leben und im Sterben, das meinen Glauben an Gott, mein Vertrauen in Gott zutiefst geprägt und begründet hatte.

Im Konfirmandenunterricht hatte ich noch einen recht konventionellen Unterricht erlebt, bei dem wir viel auswendig lernen mussten. In der reformierten Heimatgemeinde in Duisburg-Rheinhausen war da auch nicht der lutherische Katechismus in Verwendung, sondern der Heidelberger, wie in allen reformierten Gemeinden. So ein Katechismus ist bekanntlich eine Art Lehrbuch. Ein für mich bis heute bedeutsam gebliebener Textauszug daraus, den ich auswendig gelernt hatte, ist die folgende Frage und Antwort: Frage: Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Antwort: Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus eigen bin. Er hat mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst“ usw.

Trost und Erlösung aus der übermächtigen Gewalt des Teufels, der ja nur ein Sinnbild für das Böse in der Welt und das durch böse Menschen hervorgerufene Leid ist, vollzieht sich dadurch, dass ich zu Gott gehören darf, dass ich bei ihm Geborgenheit erfahren darf, Solidarität. Er lindert meinen Schmerz, weil er das Kreuz kennt und zu mir hält. Mein Alleinsein verliert sich dadurch, dass ich zu ihm gehöre. Auch dann, wenn niemand da ist und alle anderen mich verlassen haben wie damals Christus. Die Jünger waren geflohen, Petrus hatte ihn nicht mehr kennen wollen und am Kreuz schauten die, die zu ihm gehörten nur von Ferne zu. In den Evangelien finden sich unterschiedliche Darstellungen, was die Präsenz seiner Mutter betrifft. Den einen Darstellungen nach ist sie in der Nähe des Kreuzes, anderen Darstellungen nach wird sie nicht erwähnt.

Wie das auch immer gewesen sein mag. Im Schmerz und auch in der erlebten Ohnmacht werden Jesus und seine Mutter so oder so verbunden gewesen sein.

„Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet“ sagte Gott Israel zu. Gott hört die Leidensschreie der Menschen seines Volkes Israel und reagiert mit der Ankündigung von Heil: „Ich will Euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ „Heile, Heile , heile“ hat auch meine Mutter gesagt, als sie mich aufhob, als ich mit dem Fahrrad vor dem Jungen flüchtend gestürzt war. Das Heil, die Hoffnung auf Zukunft und Leben beginnt mit der Solidarität und dem Teilen der Ohnmacht, auch heute, wo es so viele Ukrainer und Mütter von gestorbenen russischen Soldaten brauchen, dass man den Schmerz teilt, tröstet, die Einsamkeit des Leids damit aufbricht und einen Weg der Hoffnung beschreitet. Der Darstellung des Johannesevangeliums nach sendet Gott letztlich Jesu Mutter zum Kreuz, um Trost im Leid zu leisten, den Schmerz nicht wegzuzaubern, was unmöglich war und bleibt, aber mit auszuhalten und die Einsamkeit aufzuheben.

Ich danke Gott von Herzen, dass er mir eine so liebevolle Mutter gegeben hatte, denn durch sie habe ich in meiner Schmerzensohnmacht die Liebe und die Güte Gottes erfahren dürfen und dadurch die Hoffnung in meinem Leben nie aus den Augen verloren. Gott tröstet wie einen seine Mutter tröstet. Amen