Predigt am Reformationstag – 31. Oktober 2010

Gnade und Friede sei mit uns allen von Gott, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen.

Liebe Gemeinde, liebe Schwestern und Brüder in Christus,

„Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich“ – so lautet der Beginn eines unserer Gesangbuchlieder, das zwar nicht von Philipp Melanchthon stammt, aber doch um einen Vers kreist, der zu seinen Lieblingsbibelversen gehörte, ja sogar der ihm allerliebste war und ihn zeit seines Lebens begleitet hatte. Wir finden ihn im Römerbrief Kap. 8, Vers 31: „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“. Im Gesangbuchlied leicht abgewandelt also: „Ist Gott für mich, so trete gleich alles wider mich.“ Im ersten Moment mag das auf uns wirken wie der Wahlspruch eines Menschen, der unter Verfolgungswahn leidet.
„Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ – ein Satz, der auf sehr gefährliche Weise schnell dazu führen könnte, dass ich mich selbst im Recht, also auf der richtigen Seite wähne und mein vermeintlicher Gegner damit automatisch auch Gottes Gegner sein müsste. Auf der Schiene argumentieren sämtliche Fundamentalisten aller Religionen. Das ist die Denke einer selbstgerechten und selbstgenügsamen Einstellung, die sich im ewigen Kampf gegen das böse fremdartige Andere sieht. Wenn Gott mit uns ist, dann ist er also gegen die Anderen.
Aber würden wir den Bibelspruch und den Liedvers so deuten, würden wir weder Melanchthon selbst damit gerecht noch dem biblisch Gemeinten. Ja, wir würden seinen Sinn geradezu auf den Kopf stellen, die biblische Aussage und das, was Melanchthon politisch, wie auch in seinem persönlichen Alltag erlebte, würden wir damit völlig sinnentleeren.
Melanchthon war in der Tat seelisch krank, zumindest in Phasen seines Lebens. Das wissen wir. Er litt zeitweise unter tiefen Depressionen. Aber Melanchthon litt nicht unter Verfolgungswahn, bei dem sich die Angst vor dem Gegner verwandelt hätte in eine Aggression gegenüber dem Gegner. Das passiert ja sowohl im Erleben eines solchen Krankheitsbildes als auch in der großen Politik. Klammer auf: „Wir wissen nicht, wozu die neuerlichen Sprengstofffunde in den Paketen der Flugzeuge aus dem Jemen nun wieder führen werden“. Klammer zu.
Melanchthon litt unter Depressionen. Darauf ist später noch einmal zurückzukommen. Aber er litt nicht unter Verfolgungswahn. Dazu war er auch selbst viel zu friedlich und harmonieorientiert als dass man das annehmen könnte. Er war im offenen Dialog mit Katholiken, anderen Evangelischen und sogar Orthodoxen und suchte die Einheit mehr als manch Anderer seiner Zeitgenossen oder Weggefährten. Deshalb nannten ihn ja manche kritisch den „Leisetreter der Reformation“. Aber das war aus Sicht Melanchthons kein Weglaufen vor Konflikten, sondern eine bewusste Friedensstrategie. In aller Unterschiedlichkeit suchte er das Gemeinsame und über das Gemeinsame hinaus benannte er aber ehrlicher und kritischer Weise die Unterschiede.

 


Und schauen wir genauer auf den Liedvers oder auch den Bibelvers, so steht dabei ja gerade nicht im Vordergrund, was uns so zusetzt oder bedrohlich erscheint, also gegen uns ist, sondern was uns tröstet und stärkt, hält und trägt in allen Anfechtungen. „Ist Gott für mich so trete gleich alles wider mich“ – „Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?“ Hier steht im Vordergrund ja nicht das, was uns anfechtet, sondern, dass Gott uns in all dem erhält. Nicht der Grund irgendeiner Anfeindung oder gar der vermeintliche Feind selbst ist Thema, sondern, dass ich Gott vertraue.
Es ist ein Satz des Vertrauens. Das ist die stärkste Theologie – die sich nicht von der Angst nährt, sondern vom Vertrauen und es ist auch das, was Menschen im Glauben suchen und brauchen – heute wie damals. Und es ist das, was Luther wie Melanchthon und andere Reformatoren ihrer Zeit wieder ans Leben befördert haben. Das, was kirchlich, gesellschaftlich und sonst wie zugeschüttet war, das haben sie wieder frei gelegt, freigegraben wie Archeologen des Evangeliums, der frohen Botschaft Gottes, dass wir aus seiner Liebe heraus leben, im Vertrauen auf diese Liebe und nicht in der Angst, ihm irgendwie gerecht werden zu müssen und durch religiöse Pflichtübungen, Ablassbriefe oder andere Auflagen in Vorleistung gehen zu müssen. Ich gebe mich einfach vollkommen wehrlos der Liebe dieses Gottes hin, der sich in Jesus Christus greifbar und endgültig gezeigt hat. Ich muss dafür nichts tun. Ich kann dafür gar nichts tun.
Philipp Melanchthon hat dieses Herzstück evangelischer Theologie – die sogenannte Rechtfertigungslehre, wonach wir gerechtgesprochen sind allein durch unseren Glauben an Christus, also durch unser Vertrauen auf Gottes Liebe und nicht durch unsere Werke, zu einem seiner wichtigsten Anliegen gemacht. Dass also allein Gottes Liebe, seine Gnade zählt, und dass Glauben nicht eine von uns zu erbringende Leistung ist, sondern von Gott selbst herrührt, hat er sowohl im ersten Lehrbuch der Evangelische Theologie, in den sogenannten Loci von 1521 auf den Punkt gebracht als auch später im Jahr 1543, als er das „Einfältige Bedenken“ zusammen mit Martin Bucer verfasst hatte, eine Schrift mit der sie die Reformation hier in Köln einführen wollten, jedoch an der damals erzkonservativen Haltung des Kölner Klerus scheiterten. Der Erzbischof war ihnen zwar wohl gesonnen, aber leider der übrige Teil des Klerus nicht. Heute mögen da die Verhältnisse eher umgekehrt sein.
Allein das Vertrauen, der Glaube an Christus zählt – Die dritte Strophe des bereits zitierten Liedes klingt geradezu wie ein zusammengefasstes Bekenntnisses, wie es hätte aus dem Munde Melanchthons kommen können, der zwar wenig Lieder oder Liedtexte schrieb, dafür aber um so mehr Gebete: In Strophe 3 heißt es:
Der Grund, da ich mich gründe,
Ist Christus und sein Blut,
Das machet, daß ich finde
Das ew’ge wahre Gut.
An mir und meinem Leben
Ist nichts auf dieser Erd’;
Was Christus mir gegeben,
Das ist der Liebe wert.

Wir singen diese dritte Strophe des Liedes 351

351, Strophe 3


Wir staunen über die großen Leistungen Philipp Melanchthons, über das, was dieser Mann und die Reformatoren der ersten Stunde, darunter auch Frauen, alles geschaffen haben. Mit ungeheurer Kraft haben sie Kirche und Gesellschaft innerhalb weniger Jahre revolutionär verändert. Philipp Melanchthon verstand sich dabei in jeder Hinsicht als Vermittler. Er vermittelte nicht nur zwischen den Fronten. Er vermittelte die Erkenntnisse der Reformatoren auch weiter. Sein Herz schlug für die Bildung und er war der geborene Pädagoge. Er reformierte das Schul- und Universitätswesen. Der Protestantismus hat ihm sein aufgeklärtes Gesicht zu verdanken. Durch Schulgründungen , Armenfreischulen und andere Formen der Förderung der Bildung wurde nicht nur vielerorts der Analphabetismus abgeschafft und ein hoch entwickeltes Schulwesen geschaffen, sondern die von ihm selbst miterarbeitete Lutherbibel als Unterrichtsgegenstand entdeckt. Wer Bibel las, lernte dadurch deutsch. Und wer deutsch lernte, lernte die Bibel kennen. Das war Befreiung und Horizonterweiterung, wie man sie heute gar nicht mehr richtig ermessen kann. Menschen wurden an die Bibel herangeführt, denen sie zuvor verschlossen blieb wie ein Buch mit sieben Siegeln, weil sie des Lateinischen nicht mächtig waren. Und gleichzeitig lernten Menschen ihre Schrift und Sprache, Sozialethik und Sozialverhalten. Das war Aneignung von Bildung im ganzheitlichen, umfassenden Sinn – nicht etwa so einseitig produktorientiert wie wir sie heute im hochtechnisierten Zeitalter kennen, wo wir zunehmend eine Engführung der Bildung auf ihren wirtschaftlichen output erleben, die schon im Kindergarten beginnt und wo wir dann eben doch die Intelligenz- und Fantasiebegabten woanders her importieren müssen, weil die in einem solchen Umfeld nicht gedeihen. „Könnte es daran liegen“, darf man von Melanchthon herkommend fragen, „dass die Bildung heute in vielen Bereichen zu kurz kommt und keinen Raum gibt für tatsächliche Kreativität, Erneuerung und Fortentwicklung?“

Da nehmen wir noch heute im Sinne von Melanchthon unsere Aufgabe als Kirchen wahr, wenn wir innerhalb und außerhalb der Kirchen dazu beitragen, dass der Mensch umfassend gebildet wird und die Bildung und Erziehung und damit auch die Kinder und Jugendlichen selbst nicht einseitigen, rein ökonomischen Interessen geopfert werden. Religion und Bildung ist für Melanchthon kein Gegensatzpaar, sondern gegenseitig notwendige Ergänzung. In der Gemeinde haben wir eine Kindertagesstätte, wo wir dafür den Grundstein legen können und wir haben andere Möglichkeiten wie den ökumenischen Kinderbibeltag gestern in Rath-Heumar. Mit einem tollen großen Team und über 90 Kindern haben wir gestern zu Franz von Assisi einen Tag lang gearbeitet, informiert, gebastelt, erzählt, diskutiert und vieles mehr, gesungen und Spaß gehabt. Die Kinder haben einen Typen kennengelernt, der genauso wenig normal war wie Jesus. Einen, der einen Sinn hatte für die Schönheit von Gottes Schöpfung und sie zu bewahren. Einer, der über Solidarität mit den Armen nicht nur debattierte, sondern sie lebte. Einen, der ein fröhlicher Christ war und selbstbewusst. Das ist Bildung im umfassenden Sinn. Normal war der nicht. Aber das, was heute so normal ist, ist doch irgendwie nicht mehr ganz normal! Das kann man erst entdecken, wenn man die Welt kritisch reflektiert – eben, sich bildet. Die Kinder des Kinderbibeltages haben nicht gelernt, wie man jemanden aufs Kreuz legen kann, sondern sind mit einem Franziskus-Kreuz aus Salzteig und im Herzen nach Hause gegangen. Wenn dann mal das Kreuz nicht nur als Schmuckstück oder Staubfänger in der Wohnung hängt, nenne ich das einen Bildungserfolg.
„Der Lehrer Deutschlands“ – wie Philipp Melanchthon bald genannt wurde, hat viel geschaffen und geleistet, aber er war sich bewusst, dass er selbst aus dem Geist Gottes lebt und dem Gebet. Diese beiden Dinge, waren ihm elementar und haben ihn gelehrt, nicht überheblich zu werden, sondern ein demütiger Lehrer und Theologe und Christ zu bleiben. Davon erzählt die nächste Strophe.

Wir singen die 7. Strophe des Liedes 351

351, Strophe 7

„Sein Geist wohnt mir im Herzen,
Regieret meinen Sinn,
Vertreibt mir Sorg’ und Schmerzen,
Nimmt allen Kummer hin,
Gibt Segen und Gedeihen
Dem, was er in mir schafft,
Hilft mir das Abba schreien,
Aus aller meiner Kraft.“


Klar in der letzten Zeile geht es hier nicht um die berühmte Popgruppe Abba. Es ist kein Fanruf – „Hilft mir das Abba schreien, Aus aller meiner Kraft.“
Es ist hebräisch für Vater. Es ist die Anrufung Gottes als Vater, als jemanden, mit dem ich in Beziehung stehe, als jemanden, auf dessen Solidarität und Mitgehen ich hoffe. „Sein Geist wohnt mir im Herzen, Regieret meinen Sinn, Vertreibt mir Sorg’ und Schmerzen, Nimmt allen Kummer hin.“ Auch diese Zeile hätte aus der Feder von Melanchthon selbst stammen können. Wir hören da von Sorgen und Schmerzen und von Kummer. Ich erwähnte es bereits, dass Melanchthon keineswegs zum Hochmut neigte. Im Gegenteil, er litt, wie bereits gesagt, zeitweise unter echten Depressionen. Es war sein eigenes Gewissen und Schuldgefühle, die ihn quälten, die teils auch mit eigenen begangenen Fehlern zusammenhingen. Nicht nur, dass seine Tochter Anna, die er einst mit vierzehn Jahren in die Ehe gab, was damals durchaus normal war, unter einer unglücklichen Ehe litt. Auch haben er und Luther die Doppelehe von Philipp von Hessen theologisch und biblisch gerechtfertigt, was den Protestantismus schwächte, da Philipp für den Kaiser erpressbar wurde. Bigamie, gerade wenn offiziell bekundet, war damals nämlich ein todeswürdiges Verbrechen. Im Gegensatz zu Luther erkannte Melanchthon sehr bald, dass er hier etwas religiös abgesegnet hatte, was einen Bumerangeffekt hatte und sowohl Philipp selbst wie auch der Sache des Protestantismus sehr schadete.
Melanchthon überkamen im Jahr 1540 deshalb schwere Depressionen. Als er sich nach Hagenau zu einem erneuten Religionsgespräch zwischen Katholiken und Protestanten auf den Weg machte, ließ er in Wittenberg verlauten: „Ich habe auf Synoden gelebt und nun werde ich auf einer Synode sterben.“ Bei seinem Zwischenaufenthalt in Weimar führten dann seien Seelenschmerzen dazu, dass ihn auch die körperlichen Energien verließen. Durch einen Brief alarmiert brach Luther zusammen mit Freunden nach Weimar auf, um sich um den Todkranken zu bemühen. Nach einer Woche ließ Luther Melanchthons Frau mitteilen, dass er wahrlich tot gewesen und wie Lazarus wieder vom Tod auferstanden wäre. Luther und Melanchthon haben beide unabhängig voneinander berichtet, dass dies durch die Kraft des Gebetes geschehen wäre – das wurde zu einer bleibenden Erfahrung für Melanchthon, die ihn die nächsten 20 Jahre lebendig hielt und für uns ein Schlüssel ist, weshalb Melanchthon dem Gebet und auch der Fürbitte so viel Wert beilegte. Er selbst formuliert einmal: „Die Geheimnisse der Gottheit sollten wir lieber anbeten als erforschen“. Damit sprach er nicht gegen die theologische Wissenschaft, wohl aber für die Kraft des Gebetes: – Vertreibt mir Sorg’ und Schmerzen, Nimmt allen Kummer hin, Hilft mir das Abba schreien, Aus aller meiner Kraft.“
In Hagenau trat Melanchthon gestärkt und voller Elan dann wieder als der kluge, friedliebende Vermittler zwischen den Fronten auf, der er war. Wieder bewegte er sich zwischen deutlichem, klaren Bekenntnis einerseits und Dialog andererseits – eine Kultur, wie wir sie heute im Miteinander der Konfessionen und Religionen auf unserer Erde bitter nötig haben. „Kein Zorn der großen Fürsten soll mir ein Hindrung sein“ heißt es in der 11 Strophe des gesungenen Liedes. Melanchthon wusste, dass sich Kirche und Welt nicht mit Zorn bauen lassen, dass Zorn nicht Zorn beantworten darf, sondern dass unsere Antwort nur aus der Freude kommen darf, die wir in Christus haben. Amen

Wir singen die Strophen 11 und 13.

Lied 351, 11 und 13