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Heilung der gekrümmten Frau - Ausschnitt aus dem Evangeliar Otto III. (copyright: wikimedia)

Predigt am Sonntag, den 18.09.2022

(Predigt, gehalten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel am 18.09.2022 in Lieskau und Dollenchen anlässlich des Besuchs in unserer Partnergemeinde in der Niederlausitz, Ostdeutschland).

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

viele reden in diesen Tagen über Freiheit und vom grünen Tisch aus darüber, dass dafür jeder Preis gezahlt werden müsse. Ich rede heute in meiner Predigt über die Freiheit, die wir in Gott haben und nicht bezahlen müssen. „Freiheit ist nicht nur ein Wort. Freiheit, das sind Worte und Taten. Als Zeichen der Freiheit ist er gestorben, als Zeichen der Freiheit für diese Welt.“

Das ist nicht etwa ein Loblied auf einen Soldaten, der sein Leben für die Freiheit seines Vaterlandes gegeben hat, womit Kriege früher immer wieder gerne begründet wurden und auch heute gerne noch begründet werden – nach dem Motto: Man muss eben ein Opfer bringen für die Freiheit.

Sondern diese Zeilen des eben gesungenen und sehr vertrauten Kirchenliedes sind auf Jesus Christus bezogen, der die Freiheit der Menschen wollte und in der Tat dafür sein ganzes Leben gab. Der Unterschied ist: Bei Jesus war es eine Sendung Gottes, die heute noch dem Leben dient. In Kriegen war oder ist es eine menschliche Sendung, die dem Tod dient.

Gott will uns als freie Menschen und es bedurfte Jesu Christi, dass wir innerlich frei werden von Schuld und Sünde, Angst und Zweifel und dem Leben wieder neu zugeführt werden, ja, zu neuem Leben geführt werden. Und es bedurfte der Hinwendung und Hingabe dieses Menschen mit seinem ganzen Leben – und hier ist wirklich sein Leben gemeint und nicht sein Tod, dass sich Menschen als von Gott Befreite erleben. Dass Menschen erleben: Gott will und meint tatsächlich meine Freiheit und nicht meine Unterwerfung oder mein Opfer an menschliche Gewalten und Ideale, und sei es die durch einen Krieg oder auf kriegerische Reaktion bezogene herbeigeführten oder herbeigezwungenen Ideale.

Wer sich durch Gott befreit fühlt, verliert die Angst vor Mächten und Gewalten oder anderer Fremdbestimmung seines Lebens.

Das Bekenntnis der ersten Christen war ursprünglich in einem einzigen Satz zusammengefasst, nämlich: „Jesous Christos Theou Yos Soter“. Auf deutsch: „Jesus Christus, Sohn Gottes, Retter der Welt“. Und zusammen ergaben die Anfangsbuchstaben dieser Wörter, das Wort „Ichthys“ – das griechische Wort für „Fisch“. Das war in der Anfangszeit deshalb auch das Erkennungszeichen der ersten Christen, die ja unter Verfolgung litten. Wenn sie sich begegnet sind, dann hat einer erst den unteren Teil eines Fisches in den Sand gemalt. Wenn der andere auch Christ war, hat er den oberen Teil des Fisches in den Sand gezeichnet und sie wussten dann voneinander, dass sie Christen sind, zusammengehören und sich vertrauen können. Das griechische Wort „Soter“ heißt nicht nur Retter, sondern auch Befreier. Und beides meint ja tatsächlich auch dasselbe. Wenn ich jemandem einen Rettungsring zuwerfe, um ihn vor dem Untergang zu retten, dann will ich ja, dass er schließlich aus den großen Massen, aus der Gewalt des Wassers befreit wird.

Die Geschichte, die uns im Predigttext begegnet, erzählt davon, wie ein Mensch durch Jesus Befreiung erlebte, Jesus als Befreier erlebte, ja, wie sich ein Mensch als ein durch Gott selbst befreiter Mensch erlebte. Sie ist zu finden im Lukasevangelium Kap. 13, Verse 10–17.

Da heißt es:

„Jesus lehrte in einer Synagoge am Sabbat. Und siehe, eine Frau war da, die litt seit achtzehn Jahren an einem Geist, der sie schwach machte. Sie war zusammengekrümmt und konnte nicht mehr aufrecht gehen. Als aber Jesus sie sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: Frau, du bist befreit von deiner Schwäche! Er legte ihr die Hände auf; und die Frau richtete sich sofort gerade auf und pries Gott. Daraufhin antwortete der Vorsteher der Synagoge, der über die Heilung am Sabbat verärgert war, zu dem Volk: Es gibt sechs Tage zum Arbeiten. An diesen Tagen kann man kommen, um sich heilen zu lassen, aber nicht am Sabbattag. Da antwortete ihm Jesus und sprach: Macht Euch doch nichts vor! Bindet nicht jeder von euch am Sabbat seinen Ochsen oder Esel vom Futterplatz los und führt das Tier zur Tränke, wenn es da braucht? Sollte dann nicht diese Frau, die doch eine Tochter Abrahams ist und die der Satan schon achtzehn Jahre gefesselt hatte, am Sabbat von dieser Fessel nicht befreit werden? Diese Worte beschämten all jene, die gegen Jesus gewesen waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.“ Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus, der Theologe Helmut Gollwitzer hat mal ein Buch über den Sinn des Lebens geschrieben mit dem Titel „Krummes Holz – aufrechter Gang“. Darin beschreibt er, wie zu einem sinnerfüllten Leben ein befreiter Mensch gehört. Ein Mensch, der aufgerichtet ist durch die befreiende Zuwendung Gottes und in Folge dessen, nicht mehr gekrümmt, sondern aufrecht und aufrichtig durch das Leben geht.

Es ist ein dickes und teils sehr theologisches Buch. Trotzdem hatte ich damals mit meinen etwa 17 Jahren dieses Buch förmlich verschlungen. Denn als jemand, der sich in der Schule und durch den Vater selbst als krummes Holz erlebt hat, wollte ich wissen, was der Sinn des Lebens ist, ja, was der Sinn all dessen ist, was ich selbst bis dahin erlebte. Und ich entdeckte: der einzige Sinn des Lebens ist: mich von Gott befreien und zum Leben führen zu lassen. Ein wirklich ermutigendes, bis für mich bis heute bedeutsames Buch, das mich damals schließlich zum Theologiestudium und zum Wunsch, Pfarrer zu werden, mit angetrieben und dabei unterstützt hat.

Befreiung und Aufrichtung – genau das erlebt hier die Frau. Ihr Geist ist so negativ durch wen und was auch immer beeinträchtigt – wir würden sagen sie ist durch eine psychische Krankheit geschlagen – ja, ihre Seele scheint in Angst oder Schuld oder Schuldgefühl so sehr gefangen, dass sie sich selbst daraus nicht befreien kann. So sehr gefangen und seelisch-geistig niedergedrückt, dass es sogar körperliche Wirkung hat und in ihrer Körperhaltung als eine, wie es heißt „gekrümmte Frau“ zum Ausdruck kommt. Ein im wahrsten Sinne des Wortes niedergedrückter Mensch.

Jesus hatte diese Frau berührt, im konkreten wie im übertragenen Sinn. Er hatte sie auch innerlich berührt mit dem, was er sagte. Er war es, der ihr Mut machte, sich aufzurichten. Es waren seine Worte der Zuwendung und Befreiung, die Wirkung zeigten und natürlich nicht irgendwelche Zauberhände. Seine aufgelegten Hände sind aber Zeichen seiner vollkommenen Zuwendung zu dieser Frau – ja, der Zuwendung Gottes.

Solche Wunder gibt es noch heute und sind keine Scharlatanerie. Genau solch eine Begegnung mit einer Frau hatte auch ich zu Beginn meiner Laufbahn als Pfarrer. Eine Begegnung, die ich nie vergessen werde und die mich zutiefst geprägt hat.

1991, zu Beginn meines Vikariats, also meine praktischen Ausbildungszeit als Pfarrer, in einer psychiatrischen Klinik in Remscheid-Lüttringhausen, in der Stiftung Tannenhof bin ich einer älteren Patientin begegnet, die gekrümmt war. Äußerlich und innerlich. Sie war ganz in einer Depression gefangen. Sie konnte noch nicht einmal mehr gehen. Sie war völlig gelähmt, versteift. Als ich sie das erste Mal auf ihrem Zimmer besuchte, lag sie versteckt unter der Bettdecke. Ich blieb lange im Zimmer, zeitweise ohne ein Wort zu sagen. Die Bettdecke zog sie nicht zurück, auch beim nächsten Mal nicht, aber da war sie immerhin schon gesprächiger. Über mehrere Monate zog sich ihre Krankheit und die Begegnung hin. Mit der mir eigenen Hartnäckigkeit und Geduld besuchte ich sie immer wieder. Einmal kamen ihr die Tränen, ein erstes Zeichen von Gelöstheit, von Bewegung. Sie fasste Vertrauen und öffnete sich mehr und mehr. Eines Tages vertraute sie mir schließlich an, dass sie in der Nazizeit als junge Frau als Sekretärin bei einer KZ-Verwaltung tätig gewesen sei. Sie erzählte mir alles, und wie sehr es sie bedrückt. Ihre Gefühle der Schuld lagen ganz offen – das, was sie ihr Leben lang gefesselt hat. Ich hörte nur zu und als sie mich schließlich fragte, was sie denn jetzt machen solle, wie sie damit weiter leben könne? Da sagte ich ihr: „Legen Sie das vor Gott! Vertrauen Sie sich Gott an! Sprechen Sie zu ihm. Seien Sie gewiss: Er wird ihnen vergeben! Und malen Sie Bilder, wie Sie es früher auch getan haben. Malen Sie Bilder, von dem, was da geschah. Die Bilder, die Sie immer noch beschäftigen oder bedrücken.“

Nachdem eine gewisse Zeit verstrichen war und sie tatsächlich auch Bilder gemalt hatte, von denen sie mir auch einige zeigte, ereilte mich sehr bald ein Anruf von der Station. „Herr Wenzel, Sie müssen unbedingt kommen. Es ist etwas mit Frau Ruska passiert!“ Den Namen darf ich nennen, weil sie ihre Geschichte selbst später öffentlich machte. Ich wusste nicht, was mir der Anruf sagen sollte, eilte aber schnell auf die Station zum Schwesternzimmer. Dort sagte man mir, dass es schön sei, das ich da sei. Frau Ruska würde schon im Zimmer ganz ungeduldig auf mich warten. Voller innerer Spannung betrat ich das Patientenzimmer und war auf eine Verschlechterung ihres Zustandes eingestellt und stellte mich innerlich darauf ein, sie trösten zu müssen. Ich hatte ja keine Ahnung. Da geschah vor meinen Augen das für mich völlig Unerwartete. Die Frau erhob sich aus ihrem Rollstuhl, machte zaghaft ein paar unsichere Schritte und sagte: „Gucken Sie mal Herr Wenzel, ich kann endlich wieder gehen.“

Ich habe dieses Erlebnis nie vergessen. Wenig Jahre später bei meiner Ordination, kam sie von Wuppertal, wo sie lebte extra nach Köln angereist, um diese Geschichte zu erzählen und vor allen zu bezeugen. Ein für uns beide sehr bewegender Moment. Es ist eine hoffnungsvolle Geschichte für alle Erlahmten, für alle, die sich nach Heilung sehnen und Heil ihrer Seele brauchen. Es ist eine hoffnungsvolle Geschichte für uns alle, weil sie uns zeigt, was passiert, wenn Menschen in und durch Gottes Nähe frei werden. Entscheidend war nicht, dass ein Gerhard Wenzel da etwas Tolles getan hätte, sondern dass die Vergebung und Befreiung Gottes für diesen Menschen erfahrbar wurde. Entscheidend war, dass Christus das vollbracht hat, dass Christus in ihrer Nähe war, dass sie durch ihn zu neuem Leben gefunden hat. Wie die gekrümmte Frau in der Geschichte, hat sie sich aufgerichtet –stand auf aus ihrem Rollstuhl auf und irgendwann trugen ihre Beine sie aus der Klinik schließlich nach Haus – als Befreite und nicht mehr Gelähmte. Sie stand auf von ihrem eigenen Tod.

Wir glauben immer, die Wunder gab es nur bei Jesus. Nein, sie gibt es auch heute und sie gab es auch schon bei seinen Jüngern. Er selbst hat ihnen gesagt, dass sie in seinem Namen Menschen heilen werden. Und so wird es tatsächlich auch von ihnen berichtet. Wir müssen nur darauf vertrauen. Ich glaube fest daran, dass Gottes Geist so etwas noch heute unter uns wirken kann – Befreiung – Heilung.

War es nicht auch Gottes Geist, der den Menschen in Ostdeutschland damals 1989 so viel Mut gegeben und Beine gemacht hat, dass sie sich aufgerichtet haben aus ihrer Knechtschaft und auf die Straßen gingen. Gerade in den Kirchen hatten sie sich Mut und Kraft geholt, bis die Mauer gefallen war und die Unfreiheit beendet wurde. Keine Frage, dass wir heute neue Unfreiheiten ganz anderer Art erleben, wie etwa irgendwelche neuen Ideologien oder aber Anbetung von wirtschaftlichem Profit oder materiellem Wohlstand, dem wir bereit sind alles zu opfern – die Umwelt z. B. oder das Sozialleben oder gar unsere eigene Seele.

Im Zusammenhang mit der Heilung Jesu hören wir von einer Auseinandersetzung, einem Streitgespräch Jesu mit dem Vorsteher der Synagoge. Es war nicht etwa ein Disput zwischen Jesus auf der einen Seite und Juden auf der anderen Seite, denn Jesus war ja selbst Jude, sondern es war eine innerjüdische Auseinandersetzung – eine Auseinandersetzung mit einer Gruppe innerhalb des Judentums, die mehr am Gesetzesbuchstaben klebte als aus dem Geist Gottes heraus lebte.

Auf die Religion bezogen kennen wir das heute so nicht mehr. Gesetze zur religiösen Pflichterfüllung spielen heute allenfalls nur noch in islamisch-fundamentalistischen Staaten eine Rolle, aber kaum noch im Christentum unserer westeuropäischen Breitengrade. Allerdings beschäftigt uns der Buchstabe des Gesetzes auch heute sehr, wo ja auch heute Menschen um der Sicherheit willen permanent mit Gesetzen und Verordnungen reagieren und regieren oder sich darauf berufen, ja, förmlich darin verkriechen und auch andere Menschen damit gerne gängeln. Was uns heute unfrei macht, ist nicht nur ein durchökonomisiertes, sondern auch ein durchbürokratisiertes Leben. Das in Kombination ist fatal. Mit unseren vermeintlichen Sicherheiten, mauern wir doch auch zugleich unser eigenes Gefängnis. „Unser versklavtes Ich ist ein Gefängnis“ heißt es in einem Lied, das wir nach der Predigt singen werden.

In diese Situation hinein höre ich die an uns gerichtete Stimme des Apostels Paulus aus dem Galaterbrief als warnende Erinnerung: „Christus hat Euch zur Freiheit befreit. Lasst Euch nicht wieder unter ein Joch der Knechtschaft bringen!“

Und wer da montags, dienstags oder mittwochs oder wann auch immer womöglich auf irgendwelche Demonstrationen geht, bestimmt sicher nicht irgendeine Regierung und auch nicht irgendwelche politischen Trittbrettfahrer, sondern wohl doch vielleicht eher die Seele, die sich nicht erneut unter ein Joch der Unfreiheit bringen lassen und lammfromm und zu jedem Opfer bereit in die Knechtschaft der Armut oder auch des Krieges führen lassen will.

Uns Christen in Ostdeutschland und Westdeutschland und im Westen und Osten so wie im Süden und Norden der ganzen Welt verbindet, dass wir alle gemeinsam einen befreienden Vater im Himmel haben, an dem wir unser Leben ausrichten können. Das ist die große befreiende und ermutigende Botschaft der Geschichte von der Heilung der gekrümmten Frau. Das ist das Lebensfundament unserer christlichen Existenz und es ist das, was wir vorhin auch in der Lesung des Römerbriefes hörten, wo Paulus ganz ähnlich wie in seinem Brief an die Galater festhält: „Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen Geist der Kindschaft empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater.“

Die Freiheit, die wir in Gott haben, ist gewiss nachhaltiger als die, überall mit 160 über die Autobahn rasen zu dürfen. Gott macht uns frei gegenüber den Bindungen der Welt, aber er bindet uns auch in der Liebe zu sich und zu den Menschen.

Freilich können wir Gott mit ebenso viel Recht Mutter wie Vater nennen. Entscheidend ist letztlich, dass wir tatsächlich in einer Beziehung stehen und bleiben zu dem Gott, der uns als zum Leben befreite und befähigte Menschen will und dazu sage ich „Amen“ – Hebräisch für „darauf vertraue ich“. Amen