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Schafherde - kuschelnde Schafe Copyright: pixabay / skeeze

Predigt für den 26.04.2020 (Misericordias Domini)

Predigt für den 26.04.2020 (von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,

im Blick auf Corona gibt es noch keine Entwarnung – wir sind noch mittendrin in der Pandemie. Es  scheint vorerst kein Entkommen zu geben, auch wenn es das ein oder andere Hoffnungszeichen am Horizont gibt. Da wünscht man sich, behütet zu sein – vielleicht so behütet wie ein Schaf von seinem Hirten. Im Johannesevangelium, Kap. 10  ist die Rede von solch einem Hirten.  Die Worte sind dem Johannesevangelium nach aus dem Munde Jesu gesprochen. Es  sind bildhafte Worte, die uns da in Vers 11 -16 und 27 – 29 begegnen:

„Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Leiharbeiter, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie –, denn er ist ein Leiharbeiter und kümmert sich nicht um die Schafe. Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt; und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall; auch sie muss ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und es wird eine Herde und ein Hirte werden. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen. Was mir mein Vater gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann es aus des Vaters Hand reißen. Ich und der Vater sind eins.“ Amen

In der Bibelforschung ist ungewiss, ob diese Worte tatsächlich aus dem Munde Jesu stammen oder ihm vom Schriftsteller des Johannesevangeliums in den Mund gelegt wurden. Denn nur im Johannesevangelium und sonst nirgend in den übrigen Evangelien begegnen die sogenannten „Ich bin“-Worte aus dem Munde Jesu, wie: „Ich bin das Brot des Lebens“, „Ich bin der Weinstock, Ihr seid die Reben“, „Ich bin das Licht der Welt“, „Ich bin die Tür zum Leben“ und eben „Ich bin der gute Hirte“. Aber selbst wenn sie ursprünglich nicht aus Jesu Munde stammen sollten, so passen sie doch allesamt auf ihn und hätten so in der Tat von ihm gesprochen sein können. Jesus hatte gerne in verständlichen Bildern zu den Menschen geredet.

Mich berühren diese Worte in diesen Tagen ganz besonders. Viele dieser Worte klingen in mir nach. Wie fern ist uns manchmal diese Aussage: „Christus ist für uns gestorben“. Wir hören sie in der Bibel, in den Kirchenliedern und den kirchlichen Lehrbüchern, aber, ob sie uns existentiell erreicht, ist eine ganz andere Frage. So viele Menschen sterben und sie sterben damit nicht zwangsläufig für uns. Aber vor dem Hintergrund des für uns alle augenblicklich Erlebbarem werden diese Worte ganz lebendig: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Ich denke an die Ärzte und Pflegekräfte, die in Wuhan, in New York, in Italien oder sonst wo im Kampf mit Corona, im Einsatz für menschliches Leben, ihr eigenes Leben gelassen haben. Und damit kommt auch das Kreuz, das Jesus auf sich genommen hat, für mich wieder näher und bleibt keine bloße dogmatische Formel. Jesus kommt mir als wahrhaftiger Mensch ganz nahe und selbst Gott kommt mir ganz nahe. Denn wer so hingebungsvoll lebt, in dem ist Gott für mich zum Greifen nah, ganz gegenwärtig. Trotz eigener Ängste haben Jesus und diese Menschen ihre Angst überwunden und sich dem Lebenskampf gestellt und ihr Leben für andere eingesetzt und dadurch letzten Endes, Leben gerettet oder sich in anderer Weise für uns hingegeben.

Wie lächerlich sind verglichen damit die Einschränkungen unserer Grundrechte, die wir im Augenblick erdulden müssen oder Klopapiernot oder die immer wieder neuen Wirtschaftsprognosen und Spekulationen darüber, was mittel- oder langfristig wo zu welchen Schäden führen könnte.

Es gilt vielmehr hinzuschauen, wo jetzt gerade tatsächlich Not ist. Und wo jetzt die Not und die Leidenden sind, da ist auch Jesus Christus, unser Hirte und da müssen auch wir sein. Denn das ist in den Worten des  Johannesevangeliums ja auch sehr deutlich gesagt: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir.“ Hier geht es nicht nur darum, dass wir selbst Geborgenheit und Orientierung erleben, dadurch, dass wir an diesen Hirten Christus halten, sondern es ist ebenso Einladung in die Nachfolge und damit ein klarer Auftrag, nämlich in derselben Liebe und Hingabe zu den Menschen und mit derselben Leidenschaft für die Gebote und die Ehre Gottes zu leben wie er selbst. Und das heißt bei den Notleidenden zu sein. Da muss Kirche sein. Da müssen wir Christen sein. „Auf jede Stimme kommt es an“ heißt es immer bei den Wahlen. „Auf die Stimme des Hirten kommt es an“ heißt es hier im Johannesevangelium. Das führt am Ende zu „ewigem Leben“, wie es im Johannesevangelium heißt.

Ewiges Leben bedeutet freilich nicht die ewige Fortführung unseres Lebens hier. Nein, das kann man in der Tat im Kampf für das Leben oder auch einfach so irgendwann verlieren. Ewiges Leben bezieht sich nach biblischem Verständnis auch nicht einfach nur auf ein Leben bzw. die Zeit nach dem Tod. Ewiges Leben ist nach biblischem Verständnis „erfülltes Leben“ – gotterfüllt und sinnerfüllt, was am Ende dasselbe ist. Es ist kein Leben, das zu haben oder zu kaufen wäre, sondern eins, in dem ich sein kann – jetzt und einst. An anderer Stelle hat Jesus auch gesagt: „Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird’s finden.“ Jesus nachfolgen bedeutet, sich nicht pausenlos an das eigene Leben zu klammern und nur von der Angst um das eigene Leben bestimmen zu lassen, sondern  loszulassen, sich zu öffnen, sich in Liebe Anderen hinzugeben und genau darin Erfüllung zu finden. Denn was passiert, wenn ich mich öffne und hingebe? Dann öffnet sich auch mein Gegenüber und gibt sich mir hin. Was passiert, ist erlebbares Glück, das auf andere Weise nicht zu finden und auch nicht irgendwo zu kaufen ist.

Die Leitfrage für uns als Kirche und Christen muss in der Situation von Corona also sein: Sind wir bei den Leidenden? Es gibt Menschen, die sind jetzt in Not oder Bedrängnis. Die einen stärker, die anderen weniger. Da sind zunächst einmal die an Corona Erkrankten so wie die Sterbenden und bereits Gestorbenen und ihre Familien. Mir erscheint es widersinnig, dass selbst Seelsorger in vielen Krankenhäusern oder Seniorenheimen zur Zeit nicht zugelassen sind. Kirche  muss sich dafür einsetzen, dass unsere Seelsorger und Seelsorgerinnen da trotz Ansteckungsgefahren präsent sein dürfen. Pflegekräfte und Ärzte sind nicht automatisch immuner als Pfarrer und Pfarrerinnen. Dass ausgerechnet diejenigen ausgeschlossen werden, die jetzt am meisten gebraucht werden oder geben könnten, offenbart für wie überflüssig man in unserer Gesellschaft inzwischen offenbar die Kirche hält und wie wenig deutlich wir als Kirche uns bislang bei den Leidenden positioniert haben und vielleicht zu wenig deutlich gemacht haben, wer wir als Kirche sind – nämlich, dass wir für die Menschen da sein wollen und müssen, weil wir die Stimme unseres Herrn Jesus Christus hören.

Auch innerhalb der Kirche und Gemeinden haben wir in diesen Zeiten keine leibhaftigen Treffen, sondern nur Videokonferenzen oder Telefonkonferenzen unserer Ausschüsse und unserer Gemeindeleitung. Gerade bei den Telefonkonferenzen merkt man da zwei Dinge: Erstens: Jede Stimme ist erkennbar. Jeder hat eine andere Stimme. Und es ist elementar, dass man richtig zuhört. So ist das auch mit der Stimme des Hirten. Diese darf ebenso wenig überhört werden. In Zeiten von Corona hören wir diese Stimme Jesu neu, wie sie zu uns ruft, uns Orientierung gibt und auch unseren Blick auf das Wesentliche lenkt – nicht so sehr Organisatorisches – sondern vielmehr auf die uns anvertrauten Menschen und auf die Gemeinschaft der Gläubigen…die ganzen Schafe, die mit uns Schafen unterwegs sind. Diese Stimme erinnert in der Tat auch diejenigen, die drohen aus dem Blick zu geraten und auch zu den Notleidenden gehören, wenn vielleicht auch nicht in derselben Stärke wie die unmittelbar von der Krankheit Betroffenen.

Ich denke an die Kinder und Jugendlichen, die zur Zeit keine KITA und keine Schule besuchen dürfen. Sie leiden unter der Kontaktarmut, dürfen  nicht in noch so kleinen Gruppen zum Spielen oder Lernen zusammen kommen und tun sich schwer, Hausaufgaben in der Isolation und völlig auf sich selbst gestellt zu erledigen. Ich denke an die Eltern, die mit eben dieser Situation ebenso überfordert sind, weil sie ihren Berufen nachgehen müssen und sich gleichzeitig um ihre Kinder kümmern sollen. Ich denke an die Menschen, die in Kurzarbeit oder gar Arbeitslosigkeit geraten sind und die keine Reserven haben. Ängste, wie sie ihre Miete bezahlen sollen und wovon sie leben sollen, machen sich bei ihnen breit und ich denke an die Menschen, die zur sogenannten Risikogruppe gehören. Es ist schön, dass viele in der Gemeinde für sie einkaufen gehen oder dazu bereit sind, aber die halten den dauerhaft verordneten Hausarrest und die Trennung von Enkelkindern etc. nur schwerlich aus.  Eingesperrt zu sein belastet das Lebensgefühl, geht auf die Seele. Corona zieht nicht in wenigen Tagen einfach an uns vorbei. Wie können wir da als Gemeinde füreinander da sein? Wie können wir für die Leidenden da sein? Was bedeutet es da, der Stimme des Hirten zu folgen?

Gestern abend, während meiner Predigtvorbereitung, erreichte mich eine E-Mail (also ein elektronischer Brief per Computer) von einem unserer neuen Presbyter (Gemeindeleitung).  Ich möchte Euch, liebe Schwestern und Brüder in Christus, gerne an seinen Gedanken teilhaben lassen, zumal die sich genau mit den Fragen berühren, die ich eben angesprochen habe. Er schreibt: „In diesen Tagen begegnen mir so viele kluge und weise Worte. Als Christen müssen wir das Licht der Welt nach draußen tragen, wir sollen dahin gehen wo es weh tut, um den Menschen zu helfen. Man kann als Christ nie tiefer fallen als in Gottes Hand. „Sola scriptura“ (allen die Schrift“): Nur das heilige Wort der Bibel zählt und soll unser Leben leiten. Aber wo bleibt in Covid 19 Zeiten das Handeln und die gute Tat? War es nicht auch das, was Jesus Christus ausgemacht hat und seine Botschaft für uns Christen und Menschen war? … Sicherlich ist die Balance zwischen Beruf und Familie eine besondere Herausforderung in diesen Zeiten, insbesondere mit kleinen schulpflichtigen Kindern. Das trifft auch bei uns zu. Aber ist nicht die gute Tat (was auch immer es sei: Ein Einkauf für einen älteren Menschen, eine Hilfsdienstleistung für den Nachbarn, oder Gymnastik und Tanz für die Kinder der Nachbarschaft im Garten -mit Abstand natürlich) die eigentliche Erfüllung? Hier und da erlebe ich Lichtblicke Dank der Initiative Einzelner und ich denke wir brauchen in diesen Zeiten mehr davon und weniger von immer gleichlautenden Nachrichten im Fernsehen und Expertisen von etlichen Virologen. Viele Menschen wollen wieder aktiv werden und ihr altes Leben zurück haben. Warum schreibe ich dir das? Weil es mich bewegt, und weil ich hoffe in meiner Funktion als Presbyter Impulse für viele gute Taten zu bekommen, die Menschen in Not helfen, trotz Covid 19 und schwieriger work-Life-Balance-Situation..“

Dieser Presbyter bringt auf den Punkt, dass wir uns auf der Seite der Notleidenden engagieren müssen und spürt wie wichtig es ist, dem Ruf der tätigen Hingabe zu folgen. In der Tat müssen wir uns da als Schafe derselben Herde gegenseitig ermutigen und anspornen. Der erste Teil meiner Antwort war, dass wir als Gemeinde schon gute Schritte gemacht haben, die auch als solche wahrgenommen wurden. Gerade heute wieder traf ich im Aldi eine ältere Frau aus unserer Gemeinde – eine Dame, die schräg gegenüber vom Pfarrhaus wohnt. Ihre Worte sollten uns allen ein Trost und eine Orientierung sein: „Herr Wenzel, ach das wollte ich Ihnen noch sagen: Sie haben mit Ihren Briefen so viel getan. Das war vorbildlich. Ihre Worte und die Informationen, die haben einfach so gut getan. Und die Worte waren so wohl überlegt. Da spürte man: Die Kirche ist für uns da. Und dann habe ich Sie auch noch als Osterhasen gesehen am Ostersonntag vom Fenster aus. Einfach toll, was Ihr auf die Beine gestellt habt, auch der Einkaufsdienst usw.“ Es ist gut und wohltuend, dass in unserer Gemeinde wahrgenommen wird, dass wir der Stimme des Hirten folgen und füreinander da sein wollen. Der zweite Teil meiner Antwort war, dass wir freilich dabei nicht stehen bleiben dürfen. Corona ist nicht in wenigen Tagen an uns vorbei. Das Tun ist in der Tat gefragt – in doppelter Hinsicht „beherztes“ Handeln – eins, das von „innen“ motiviert ist und am Mitmenschen ausgerichtet ist. Wir werden uns  weiter fantasievoll einbringen müssen, um deutlich zu machen: wir gehören zu einer Herde und sind bei den Notleidenden. So sind nun auch für die nächsten Wochen und Monate konkrete Aktionen für Jugendliche geplant, um sie aus der Isolation rauszuholen und im wahrsten Sinne des Wortes Hoffnung für die Zukunft zu pflanzen – es gibt eine Hochbeet-Idee, die wir verfolgen wollen. Wir wissen noch nicht, wie und wo auf unserem Gelände. Aber selbst, wenn das nichts wird, dann wird es etwas Anderes geben. Auch die Jugendlichen sollen spüren, dass sie nicht vergessen werden und dass sie zu einer Gemeinde gehören. Das ist die große Chance unserer Zeit, dass wir noch mal ganz neu erfahren, wie wichtig  es ist, dass wir die Stimme des Hirten hören und füreinander da sind. Wir können Zeichen setzen, die Hoffnung und Geborgenheit untereinander vermitteln. Jeder von Euch kann dabei etwas geben – Zeit, Talent oder was auch immer. Die Herde des Hirten Christus lebt von seiner Hingabe, die weiter geht. Amen

Schafherde – kuschelnde Schafe Copyright: pixabay / skeeze