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Jugendliche beim Gebet - Copyright: Jörg Löfcke (dpa)

Predigt für Sonntag Rogate (17. Mai 2020)

(von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel)

Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
Wenn die Corona-Zeit vorbei ist, bete ich aber drei „Vater Unser“ – das kann ich Ihnen sagen, Herr Wenzel“, hat kürzlich jemand zu mir gesagt. Und meine spontane Antwort war: „Warum erst dann?! Die sollten sie lieber jetzt beten!“ da hat die Person mich natürlich nur ganz verblüfft angeschaut und ihr ist erst mal klar geworden, welchen Unsinnsgehalt eigentlich dieses Redeweise hat. Beten als eine Bußpflicht oder als ein Opfer verstanden, wo das Vater Unser völlig sinnentleert wird, denn eigentlich ist es ja kein Dankgebet, sondern vornehmlich ein Bittgebet.

Martin Luther, von dem das Lied stammt, das wir eben Corona bedingt nicht singen durften, aber dennoch wahrgenommen haben, widmet sich ganz dem Vater Unser und seinem biblischen Zusammenhang. Der für heute vorgesehene Predigttext befindet sich im Matthäusevangelium Kapitel 6, Verse 6-13 und ist Teil der berühmten Bergpredigt Jesu. Die Bergpredigt oder auch Feldrede genannt – die Evangelien nach Lukas und Matthäus setzen nämlich jeweils unterschiedliche geographische Gegebenheiten voraus, ist gewissermaßen das Herzstück der Lehre Jesu. Und im Herzen seiner Lehre finden wir eben nicht nur die bekannten Seligpreisungen, sondern auch seine Worte zum Thema Beten. Da heißt es:
„Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt.
Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.
Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen.
Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet.
Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit]. Amen

Liebe Schwestern und Brüder in Christus, wenn es nach Jesus geht, bräuchten wir zum Beten nicht in die Kirche kommen. Gegenüber dem Gebet in öffentlichen Räumen scheint er eher kritisch eingestellt zu sein. Und zwar nicht, weil da Ansteckungsgefahr von Corona ausgehen könnte und er empfehlen würde, sich deshalb besser nicht zu versammeln, sondern weil das Beten im stillen Kämmerlein seiner Erfahrung nach ein anderes Erleben ist, ja, eine andere Intensität hat, intimeren Charakter hat, wenn man so will. Vielleicht hat der ein oder andere von uns das in der Corona-Zeit wegen der Zwangspause aller öffentlichen Aktivitäten zuhause im stillen Kämmerlein für sich sogar wieder neu entdeckt.
Was das Beten betrifft, so bin ich bin immer wieder davon berührt, wie oft und wie regelmäßig Jugendliche im Allgemeinen beten, eben nicht nur zur Coronazeit, wo manche aufgrund der besonderen, etwas beklemmenden oder beängstigenden Situation das Beten wieder intensiver praktizieren mögen.
Im Gegensatz zu dem, was man Jugendlichen gerne unterstellt, beten sie nämlich durchaus recht regelmäßig, sogar mehr als manch Erwachsene, die das als Zeitverschwendung oder Kinderkram sehen. Jugendliche mögen vielleicht dazu nicht den Gottesdienst aufsuchen, sondern eher das stille Kämmerlein. Aber da sind sie ja ganz bei Jesus, der genau dieses zum Gebet empfiehlt, wo es um echtes innigliches Beten geht.
Bei allen kritischen Fragen, die sich Jugendliche berechtigterweise zu Gott stellen, sind sie doch welche, die mit ihm reden oder versuchen, mit ihm zu reden, sich ihm anzuvertrauen, etwas loszuwerden, im Gespräch zu bleiben. Besonders deutlich wurde mir das mal auf einem Konfirmandentag vor wenigen Jahren.
Da sollten sie noch mal kurz vor der Konfirmation ihre Vorstellungen von Gott und Glaube in ein paar selbst geschriebenen Sätzen festhalten. Da hieß es in dem einen Beispiel: „Gott ist für mich ein Leiter durchs Leben. Er ist immer für mich da, wenn ich ihn brauche und ich kann immer mit ihm reden. Egal, was man ihn fragt. Er gibt immer eine gute Antwort. Deshalb glaube ich an Gott.“ Allein diese Äußerung ist für mich als nun doch recht erfahrener Pfarrer und Christenmensch von neuem eine Ermutigung zum Beten. Als ich das las, kamen mir die Tränen – „Egal, was man ihn fragt. Er gibt immer eine gute Antwort. Deshalb glaube ich an Gott“. Welch ungeheuer tiefes Vertrauen und Ermutigung zum Gespräch mit Gott! Das war übrigens kein Mädchen, das das geschrieben hat, was man vielleicht vermuten könnte, sondern ein Junge. Wenn ich diese Worte lese, dann habe ich richtig Lust, mich von diesem Vertrauen anstecken zu lassen – ja, darauf vertrauen, dass ich nicht alles in den Wind sage oder gegen die Wand, sondern dass da ein Gegenüber ist, das mir auch antwortet und ich muss vielleicht mehr auf diese Antworten hören. Nicht nur reden, sondern mehr hören. Mehr in mich hinein und mehr auf Gott. Das andere Beispiel, diesmal von einem Mädchen: „Gott ist für mich immer da! Wenn ich weine und es mir schlecht geht, kann ich ihm von meinen Sorgen erzählen und zu ihm beten, Dadurch geht es mir oft besser. Doch auch in schönen Momenten denke ich an Gott und danke ihm dafür, dass ich den Moment erleben darf und eine tolle Familie und Freunde habe.“
Wir beklagen in den letzten Jahren so oft unsere leeren Kirchen zu den sonntäglichen Gottesdiensten – übrigens gab es diese ewigen Klagen über die leeren Kirchen bereits seit dem 17. Jahrhundert immer wieder. Gewiss ist das schade oder traurig, dass so wenig und vor allem junge Menschen von sich aus den Weg in den Gottesdienst suchen. Aber auf der anderen Seite sollten wir das wahrnehmen, was in den Zeilen der Jugendlichen zu uns spricht und was uns auch Jesus in der Bergpredigt ans Herz legt: Es kommt nicht auf gefüllte Synagogen, Tempel oder Kirchen an, sondern auf ein gefülltes Herz. Jesus redet da vom „Verborgenen“. Beten ist eine Begegnung mit Gott im Verborgenen. Wenn man also erst durch das Dickicht des Verborgenen hindurch muss, dann ist doch für uns nachvollziehbar, dass das oft seinen besonderen Ort und seine besondere Zeit braucht. Freilich ist das beim gemeinschaftlichen Gebet anders. Aber darauf bezogen hat Jesus ja auch etwas Wichtiges zu sagen, nämlich „plappert nicht“ – auf gut deutsch: macht nicht zu viele oder schöne Worte, sondern sagt das Wesentliche – das, was Euch am meisten am Herzen liegt, das, was für Euch elementar wichtig ist. Und hier empfiehlt Jesus so etwas wie eine Kurzform des damals üblichen jüdischen Tagesgebetes.
Natürlich geht es nicht um ein reines Nachplappern dieser Worte, sondern um ein inneres Mitsprechen des Vater Unser. Jedes Vater Unser ist eine Art Meditation, bei der bei jeder Bitte all das mitschwingt, was einen gerade bewegt. In derselben Absicht ist auch das Lied von Martin Luther zum Vater Unser geschrieben.

Nun kann und will ich heute nicht in aller Ausführlichkeit über das Vater Unser predigen – dazu bedürfte es viel mehr Zeit, aber einige Bitten möchte ich doch herausgreifen.
Geheiligt werde dein Name – es nimmt Bezug zu den 10 Geboten. Hier im Vater Unser ist positiv ausgedrückt, was dort negativ ausgedrückt ist, nämlich: du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen. Es geht darum, dass Gott uns dabei helfen möge, seinem Namen Ehre zu erweisen, seinen Namen positiv zur Geltung zu bringen. Das bedeutet „Dein Name werde geheiligt!“

Sein Name wird in der Selbstvorstellung Gottes gegenüber Mose am brennenden Dornbusch deutlich: „Ich bin der als der ich mich an Eurer Seite erweisen werde“ – so lautet die Deutung des Gottesnamens „Jahwe“, den wir nie aussprechen. „Ich bin der als der ich mich an Eurer Seite erweisen werde“ Es geht also um den Gott, der mit den Menschen solidarisch ist. Luther sagt im Lied (Beamer?): heiligen ist: Gottes Wort rein zu halten und auch danach zu leben. Zu gut Deutsch, die Solidarität, also die Hingabe und Liebe Gottes zu predigen und sie auch zu leben. So wird Gottes Name geheiligt. Es geht da also nicht um ein reines Lippenbekenntnis, sondern unser entsprechendes Handeln soll die Antwort auf die liebevolle Solidarität Gottes sein.
Dein Reich komme – Gottes Reich ist in der Überlieferung der Kirche über Jahrhunderte hindurch viel zu sehr auf Das Jenseits oder auf Sanktnimmerlein verschoben worden. Und Religionskritiker wie Marx, Feuerbach und Siegmund Freud haben darum im 19 Jahrhundert zurecht kritisiert, die Kirche würde damit von den Problemen im Hier und Jetzt ablenken und auf das Jenseits vertrösten. Jesus selbst erwartet Gottes Reich in unserer Welt. „Dein Reich komme“ kann man schlecht beten, wenn man es nicht hier und jetzt auch erwartet. Was ist Gottes Reich? Wenn ich das Kindern im Schulgottesdienst erklären will, dann sage ich immer: Gottes Reich ist da, wo Gottes Liebe herrscht. Eben nicht die Liebe der Menschen zur Macht soll herrschen, sondern Gottes Liebe soll unter uns Menschen herrschen. Das vollzieht sich nicht erst irgendwann, sondern schon im Hier und Heute.

Dein Wille geschehe – das geht in eine ganz ähnliche Richtung, ja will im Grunde dasselbe besagen. Nicht die Menschen sollen das Sagen behalten und diejenigen ihren Willen durchsetzen können, die schon immer die Macht besaßen und das machen, was sie wollen, sondern was Gott will und den Menschen zum Guten dient. Hier geht es also darum, tatsächlich der Wirkkraft Gottes zu vertrauen. Da wünsche ich uns Erwachsenen etwas mehr vom Zutrauen wie es die Jugendlichen haben.
Gott ist nur deshalb attraktiv und für Jugendliche oder uns existentiell bedeutsam, weil er hier und da eine Alternative bietet und will, dass sie sich durchsetzt.

Wir „singen“ nun die Strophen 5-7 des Liedes Nr. 344.
EG 344, 5-7: „Vater unser im Himmelreich“

„Unser täglich Brot“ gib uns heute – das geht sicherlich nicht in der Nahrung auf. Es meint tatsächlich all das, was wir zum Leben alltäglich brauchen. Aber den Alltag der Menschen in vielen Ländern dieser Erde bildet nach wie vor der Hunger nach Brot, die Mangel- und Unterernährung also und die medizinisch schlechte Versorgung. Jetzt beschäftigt uns die Corona-Pandemie. Aber in den zurückliegenden Jahren gab es diese Katastrophen Jahr aus Jahr ein – in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten. Sie standen nur nicht vor unserer Haustür. Wo es uns dann doch auch mal trifft, reden wir auf einmal von Pandemie. Als wenn die anderen Epidemien keine Pandemien gewesen wären, also alle angehen. Sie betrafen immerhin ganze Kontinente wie Afrika. Ich nenne nur Ebola.

Wenn wir im „Vater Unser“ um das tägliche Brot bitten, dann ist damit auch immer ein Stück Hoffnung ausgedrückt, dass dieser Zustand kein Dauerzustand bleiben möge. Die Hoffnung eben, dass alle medizinische Zuwendung erfahren, auch die Ärmsten, wie die Menschen es mit Jesus erlebt haben, als er Blinde, Lahme und Leprakranke geheilt hatte und dass alle gesättigt werden wie die Menschen das mit Jesus bei der Speisung der 5000 ja auch leibhaftig erlebt haben. Jedes Vater Unser, das aber von einem ernsthaften Versuch des Teilens begleitet ist, bleibt darum ein verlogenes Vater Unser. Aber auch hier bleiben wir alle in der Spannung zwischen dem Schon Eingetretenen und dem, was noch aussteht.
„Und vergib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“ Eine sehr missverständliche Bitte. Gemeint ist nicht, dass Gott uns so vergeben möge, wie auch wir das tun. Da hätte er in den Menschen sicher eher ein schlechtes Vorbild. Denn oft gelingt uns das gerade nicht. Wir sind oft zu stolz oder zu verletzt, um zu vergeben. Gemeint ist vielmehr genau umgekehrt, dass wir selbst dem Beispiel Gottes folgen mögen und untereinander auch so handeln mögen, denn wir erfahren ja selbst, wie befreiend das ist, wenn uns Gott die Schuld vergibt.
Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen – das ist gewiss die Zeile im Vater Unser, die vielen im Verstehen Kopfzerbrechen bereitet.
Führt Gott uns wirklich in Versuchung, dass wir ihn bitten müssten, es nicht zu tun? Nein! Im Jakobusbrief heißt es eindeutig: „Gott führt niemanden in Versuchung“. Da würden wir in der Tat die Verantwortung auch all zu leicht auf Gott abwälzen und ich persönlich würde an einem solchen Gottesbild verzweifeln, wo ich mir Gott als jemanden vorstelle, der damit beschäftigt wäre, mich in Versuchung zu führen, also ins Böse hineinzuführen und nur durch mein Bitten davon ablässt und uns vom Bösen erlöst.
Das Böse ist einfach da. Es ist Teil unserer Wirklichkeit. Man kann diesen Versteil des Vater Unser besser und richtiger übersetzen: Und führ uns in der Versuchung hindurch! Das ist etwas ganz Anderes und will besagen, dass wir versucht sind, bei den Leiden, dem Bösen in der Welt uns was uns sonst noch an Herausforderungen begegnet, uns von Gott loszusagen, ihn aus dem Blick zu verlieren, ihm einfach nicht mehr zu vertrauen. Das ist die große Versuchung des Menschen. Das ist unsere große Versuchung, dass wir Gott bei allem Erlebten nicht mehr vertrauen. Und damit sind wir wieder bei dem, wozu die Konfirmanden in ihren eigenen Statements ermutigt haben und wozu auch Jesus ermutigen will – von Gott nicht loslassen, sondern einfach Amen sagen. Amen ist hebräisch und heißt auf deutsch übersetzt: Ich vertraue. Mein Vertrauen ist gefragt. Und wo ich nicht genügend Vertrauen aufbringe kann ich Gott im Gebet bitten, dass er mir die Kraft dazu geben möge.

Am Dienstag in der zurückliegenden Woche waren als sogenannte Tageslosungen, also Bibelverse aus dem Alten und Neuen Testament, die einen den Tag über begleiten sollen, auch Verse zu lesen, die mit dem Beten zu tun haben. Auf diese Verse will ich noch mal unsere Aufmerksamkeit richten, weil wir ihnen Entscheidendes entnehmen können. Hier sind sie auch auf dem Beamer zu sehen:
Der aus dem Buch der Könige im Alten Testament lautet: Der HERR sprach zu Salomo: Bitte, was ich dir geben soll! Salomo sprach: Du wollest deinem Knecht ein gehorsames Herz geben, dass er dein Volk richten könne und verstehen, was gut und böse ist. (1.Könige 3,5.9)
Und der aus dem Neuen Testament ist: „(Paulus schreibt): Ich bete darum, dass eure Liebe immer noch reicher werde an Erkenntnis und aller Erfahrung, sodass ihr prüfen könnt, was das Beste sei.“ (Philipper 1,9-10)
Die beiden Verse aus völlig unterschiedlichen Zusammenhängen klären uns darüber auf, wie die Bibel Gebet versteht und wie sie Spiritualität versteht im Unterschied zu weit verbreiteten Missverständnissen in der Christenheit einerseits und in heutigen sogenannten spirituellen Bewegungen und esoterischen Kreisen andererseits.
Viele Menschen sehen Glauben als Widerspruch zum Denken. Das ist Unsinn. Darüber klären uns gerade diese beiden Verse auf. Denn, um was bittet Salomo? Was ist das Gebet des Salomo? Ein „gehorsames Herz“ (in der Bibel ist das Herz nicht etwa der Ort des Gefühls, sondern des Verstandes und der eigenen Identität) und um Weisheit, also letztlich um das, was wir Vernunft oder „Denken“ nennen.
Ganz ähnlich bittet Paulus im Gebet darum, dass die „Liebe“ der Christen in Philippi „immer noch reicher an Erkenntnis werde“. Die Nächstenliebe oder Liebe ist für ihn nicht nur eine Frage des Mitleids und Gefühls, sondern bedarf der vernunftorientierten Reflexion des Verstandes. Ziel ist, wie Paulus es sagt: „, dass Ihr prüfen könnt, was gut und böse ist.“ Das deutsche Wort „prüfen“ ist Übersetzung des griechischen Wortes „kritein„, das da im Text steht. Richtig, da klingt das Wort „kritisch“ mit an. Kritisch sein bedeutet im Ursprung des griechischen Wortsinns „unterscheiden“, also den Verstand so einsetzen, dass man die Dinge abwägt und von einander unterscheidet, auf gut deutsch: ein differenziertes Denken im Unterschied zu einem plakativen, einseitigen oder von Vorurteilen geprägtes Denken.
Sowohl im Alten Testament als auch in Neuen Testament soll das jeweilige Gebet also die eigenen Sinne und den eigenen Verstand schärfen und zu einem vernunftorientierten Handeln führen. warum ich das alles so sehr betone?
Weil damit deutlich wird, dass Denken und Glauben und auch Denken und Gebet keine Gegensätze sind, wie viele heute meinen, sondern Glauben führt zum Denken. Ja, und das kritische Nachdenken kann sogar wieder neue Perspektiven des Glaubens eröffnen, wo Glauben einmal missbraucht oder zugedeckt wurde durch fragwürdige Erziehungsmethoden und Bibelinterpretationen, wie etwa den Missbrauch biblischer Aussagen für die eigene Herrschaftssicherung.
Und wir werden durch diese beiden Verse auch darüber aufgeklärt, wie die Bibel Beten versteht. Beten bedeutet nicht einfach die Verantwortung für mein Leben an Gott delegieren, sondern umgekehrt, mich in der Verantwortung für mein Leben stärken zu lassen, Vergewisserung für meine vernunftorientierte Gestaltung der Welt zu finden und Gewissenserforschung im Gebet zu betreiben, wo die Unvernunft regiert – Unvernunft in mir oder in der Welt. Natürlich geht es im Gebet um die Öffnung gegenüber Gott selbst, also gegenüber dem Göttlichen und der göttlichen Wirkkraft. Aber das Göttliche, das Spirituelle (Geistliche) ist nicht etwa all das, was unerklärlich oder irrational ist (wie bei vielen spirituellen Modebewegungen oder den Geisterbeschwörungen der Esoteriker). Das Göttliche ist also nicht einfach ein Name für all die Dinge, die sich außerhalb unseres Verstandes bewegen, sondern das Göttliche leitet , wie es diese biblischen Verse zum Gebet zeigen, zur vernunftorientierten Gestaltung der Welt an. Weder Weltflucht noch Weltenhass ist deshalb göttliches Programm und schon mal gar nicht Denkverbot, sondern nur vernunftorientierte Liebe zur Welt. Dafür hat Gott uns den Verstand und die Vernunft gegeben. damit wir selbstständig handeln. Darum bitten Salomo und Paulus und nicht etwa darum, dass aus dem Himmel heraus jemand für uns die Welt auf magische Weise wieder in Ordnung bringt.
Ein Letztes Wichtiges gibt es zum Beten noch zu sagen. Aber dieses Wichtige sage ich heute erst unmittelbar vor dem Fürbittengebet. Amen

(Fürbitte trägt in der Gemeinschaft des Glaubens – so auch die Familie Timoschenko, für die wir heute beten – Herr Timoschenko ist Corona-Patient und liegt auf Intensivstation und kämpft mit dem Tod).

Wir singen nun die Strophen
EG 344, 8-9 (Wochenlied): „Vater unser im Himmelreich“