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Predigt zum 13.Sonntag nach Trinitatis 29.08.21, Gottesdienst mit amnesty international

Die Gnade Jesu Christi und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. AMEN

Liebe Gemeinde,
es gibt einige Sätze in der Bibel, die haben es in unsere Erinnerung geschafft, in unser Herz eingebrannt oder liegen uns schwer in der Magengrube.
Ich möchte behaupten, dass die Bibeltexte des heutigen Sonntags davon einige bereithalten.
Erinnern wir uns an die Lesung aus dem Lukasevangelium vom barmherzigen Samariter.
Der zentrale Satz dieser Geschichte ist für mich dieser:
„Wer ist denn mein Nächster“?
Ein Satz der herausfordert. Ja wer ist denn nun mein Nächster? Ist es mein Sohn, meine Tochter, meine Frau, mein Großvater, meine Enkelin? Vielleicht noch mein Arbeitskollege, meine beste Freundin, die freundliche Nachbarsfamilie?
Berechtigte Frage, und vielleicht stellen Sie sie sich ja auch, wenn Sie von den Schicksalen einiger Menschen gehört haben, für die amnesty international sich einsetzt.
Ein Journalist in der Türkei, ein Menschenrechtsanwalt in China, Gefangene in Guantanamo Bay.
Warum soll ausgerechnet das mich anrühren? Sind diese Menschen meine Nächsten?
Erinnern wir uns an die von Jesus provozierte Antwort des Schriftgelehrten: „Der die Barmherzigkeit tat, …. Ist zum Nächsten geworden dem, der die Barmherzigkeit und Hilfe brauchte.“ Das hat er ja ganz geschickt gemacht, dieser Jesus: Den Blick von der Richtung: „Uh, ich schaue mich mal um, wer von diesen ist wohl mein Nächster……“
Weggelenkt zu
„Wann und Wie werde ich denn zum Nächsten?“
Es geht um barmherziges Handeln, und in der Bibel ist das mehr als Wundenauswaschen und auf ein Lager betten. Barmherziges Handeln, das ist auch : Gegen Ungerechtigkeit aufstehen und ein Veto einlegen. Nicht zum verlängerten Arm einer korrupten Rechtsprechung werden, sondern für Menschlichkeit und Gerechtigkeit einstehen. Das ist es, was amnesty international auf der ganzen Welt tut und wozu es uns immer wieder auffordert und erinnert: Auch Du kannst zum Nächsten werden, und wenn es nur mit Deiner Unterschrift auf einer Petition, einer Postkartenaktion oder einer Geldspende ist!

„Wer ist denn mein Nächster“? Ein Satz aus der Bibel, der sich bei amnesty international und bei mir ziemlich tief eingebrannt hat. Vielleicht auch bei Ihnen, bei Dir?

Aber es gibt noch mehr Sätze aus der Bibel, und einen anderen entdeckte ich im heutigen Predigttext aus dem alten Testament. Er lautet „Soll ich denn meines Bruders Hüter sein?“
Wissen Sie zufällig, aus welcher biblischen Geschichte er stammt? Weißt Du zufällig, wer diesen Satz zu welcher Person gesagt hat?
Ich gebe mal einen Tipp – es geht um zwei Brüder.
Ich behaupte mal: Die beiden bekanntesten Brüder der Bibel. Sie waren zwei – übrig blieb nur einer .
Ah, jetzt dämmert es: Kain und Abel.

Weil die Geschichte von Kain und Abel, der heutige Predigttext aus dem Buch Genesis so lang ist, will ich ihn im Wesentlichen erzählen, erinnern.

Abel, sein Name bedeutet „Hauch“ ist der Sanfte, ein Träumer, von Beruf Schäfer.
Kain, sein Name leitet sich von „zupacken, hart arbeiten“ ab, der ist ein Ackermann.
Den beiden widerfährt, dass ihr Brandopfer von Gott unterschiedlich angenommen wird. Gott wählt und bewertet den lieblichen Geruch von Abels Opfergabe.
Kain hat nichts Böses getan, bis jetzt nicht.
Aber: Er wird nicht gesehen, nicht anerkannt.

So viele unterschiedliche Gefühle toben darauf in ihm. Er ist so beschäftigt mit seiner Schmach, dass er Gott gar nicht mehr hört, der besänftigend auf ihn einredet: „Kain, warum ergrimmst du? Warum senkst du deinen Blick?“
Das heißt nichts anderes als: „Was beschäftigt dich? Was ist es, dass dich zornig macht? Ich will dir helfen. Sprich nur ein Wort, und du könntest gesund bleiben, könntest verstehen.“
Doch Kain redet nicht. Viele Menschen reden nicht. Nicht über das, was sie wütend macht, trostlos und deprimiert.
Damit meine ich wohlgemerkt nicht die, die zuviel reden. Einfach drauflos in Pöbelattacken, maßlos wütend und aggressiv. Weil jemand nicht ihrem Bild entspricht, in ihren Augen einen Fehler macht, Vielleicht einfach falsch parkt. Das kann soweit gehen, dass wild gepöbelt wird, wenn jemand eine Behinderteneinrichtung oder ein Hospiz in der Nachbarschaft aufbauen will. Das sind Menschen, wie wir sie alle kennen, die unkontrolliert in Leserbriefen und Internetforen ihre erschreckend hemmungslose Wut herausschleudern. Diese sogenannten „Meinungsäußerungen“ meine ich nicht. Sie sind ja eher Ausdruck einer Wut auf die Welt, die irgendeine Adresse sucht, um sich zu entladen.
Nein, in unserer Geschichte geht es darum, an sich selbst zu adressieren: Sag, was ist es, das dich so zornig macht? Hebe dein Kinn und schau mich an. Ich will es doch verstehen. Versuch zu sagen: Was ist so untröstlich in dir?
Doch Kain redet nicht. Er klagt auch nicht. Er klagt Gott eben nicht an, ist er es doch, der ihm so unerklärlich ist und dunkel, scheinbar ungerecht. Nein, er kann nicht klagen. Und so bleibt auch ihm selbst verschlossen, was er fühlt. Deshalb nimmt das Unheil die Bibel nennt es Sünde – seinen Lauf.
Kain lässt sich infizieren von dem Zorn, der aus ihm herausgaloppiert. Er hat nicht mehr die Wut, sondern die Wut hat ihn, und zwar voll im Griff, und sie wird Abel zu Tode bringen.
Manchmal trifft es dabei genau die, die einem eigentlich am Nächsten sind. Die schlechte Laune der Mutter bekommt das Kind ab, das zu spät aus der Schule kommt. Den Ärger aus dem Büro trägt der Ehemann nach Hause und prügelt ihn auf seine Frau ein. Das Entsetzen über schwindende Kräfte und Möglichkeiten bekommt im Altenheim die Pflegekraft ab, wenn ein Patient spuckt oder um sich schlägt.
Ich lese aus dem Buch Genesis, Kapitel 4:
8Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
9Da sprach der Herr zu Kain:
Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? 10Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde
.

Natürlich weiß Kain, was er getan hat. Natürlich hätte er hüten müssen, nicht seinen Bruder, sondern diesen Hass in sich selbst.
Manchmal muss man dem, was sich in einem an Gefühlen aufstaut, erst einmal Raum und Zeit geben. In Beratung, Coaching oder Supervision, meinem Weiterbildungsfeld, da braucht es für Menschen, die gerade nicht weiterwissen diese Erlaubnis, diese Zeit und diesen Raum, dass Gefühle nicht sofort in blinden Aktionismus umschlagen, sondern erst einmal den Blick auf mich selbst lenken.
Warum hasse ich gerade? Warum kann ich nichts anderes sehen als das, was mir gerade Schlechtes widerfährt? Wo spüre ich die Wut? Wie äußert sich der Schmerz?

Ich muss sagen, ich habe nach dem großen Regen viele Menschen in den Überflutungsgebieten bewundert. Die viel verloren hatten und zu Recht entsetzt und wütend sein konnten. Aber die hatten diese Gefühle nicht, oder sie haben diesen Zeit und Raum gegeben, bis sie wieder handlungsfähig waren – und dann bisweilen sogar noch denen geholfen haben, denen es noch schlechter ging, die alles verloren hatten. „Soll ich denn meines Bruders Hüter sein“?

Vielleicht wissen Sie, wie die Geschichte von Kain und Abel ausgeht. Gott bestraft Kain mit einem unsteten Leben, aber er straft ihn nicht so, dass er um Leib und Leben fürchten müsste. Das „Kainsmal“ – auch so ein Begriff der Bibel, der uns noch heute durch Mark und Bein geht – wird hier eingesetzt:
Ein Zeichen, das Kain schützen und am Leben erhalten soll.
Das Kainsmal, das als bleibendes Zeichen daran erinnert, wie grausam wir töten können. Ein Zeichen, das auch an das Opfer erinnert, an all die Gedemütigten und zu Tode Gekommenen an so vielen Orten der Welt. Allemal aber ist es auch ein Zeichen zum Leben, zum Weiterleben.
So setzt, liebe Gemeinde, die Bibel gleich am Anfang einen Akzent gegen den Tod und gegen die Todesstrafe. Gott will das Leben. Auch das Leben und Weiterleben derer, die schlimme Schuld auf sich geladen haben.

Leben dürfen selbst die, die Nedim Türfent in der Türkei folterten, und die, die Cao Zhisheng ohne jegliches Recht wegsperren ohne Kontakt zur Außenwelt. Leben dürfen selbst die Taliban oder Mitglieder des IS.
Das wühlt mich auf, wenn ich an die Bilder in den Medien denke, in denen Babys über den Zaun zum sicheren Teil des Flughafens gereicht werden und an das Leid der Flüchtenden erst.
Leben soll Kain, im Land der Unruhe zwar, anders als zuvor, doch leben – gezeichnet mit der Hoffnung Gottes, die niemals einen Menschen verloren gibt.
– So sind wir am Ende der Geschichte – und gleichzeitig wieder am Anfang. Indem Gott hofft, immer und immer wieder, schenkt er uns Anfänge und segnet sie.
Segnet sie und gibt die Welt und uns nicht auf mit seiner gnädigen Gegenwart.
Gibt es also etwas Besseres, als zu versuchen, des Bruders Hüter zu sein, und dem Nächsten eine Nächste zu werden? Einen tieferen Sinn, als mit Gott zu werden seiner Barmherzigkeit Hand?

Und der Friede Gottes, der größer ist als alles was wir denken und begreifen, der bewahre unsere Herzen und alle unsere Sinnen in Christus. AMEN

A. Stangenberg-Wingerning