(Predigt am 14.11.2021 gelten von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel in der Auferstehungskirche in Ostheim) zu 2. Korintherbrief 5, 1-10 und Jesaja 2, 2-5)
Die Gnade und der Friede Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen
Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
in den Herbstferien waren wir mit unserer Konfirmandengruppe in Belgien und in der dortigen Hauptstadt in Brüssel auf den Spuren von Krieg, Versöhnung und Frieden. Wir hatten ein SS-Gefangenenlager in Bredendonk besucht, waren im Militärmuseum in Brüssel, wo wir für einen Moment in die Welt des 1. Weltkriegs eingetaucht waren und wir waren auch auf dem großen Brüsseler Friedhof, wo unzählige Soldaten aller Nationalitäten der beiden Weltkriege begraben liegen, unter anderem mehrere Tausend deutsche Soldaten. Schließlich haben wir dann auch noch das Europaparlament besucht, das ja die Antwort auf die Erfahrung von Krieg und Gewalt in Europa und der ganzen Welt ist.
Es gibt kaum noch lebende Zeitzeugen dieser ganzen Ereignisse der Kriege und Gewaltherrschaft und des Völkermords. Umso wichtiger ist es, Wege zu finden, wie die Erinnerung so wachgehalten werden kann, dass sie uns heute noch berührt und wir auch Konsequenzen für unser Handeln heute daraus ziehen.
Wenn ich von den Reaktionen der Konfirmanden und Konfirmandinnen höre, denke ich, ist uns das ein Stück mit dieser Reise gelungen.
In der heutigen Predigt möchte ich gerne mit Euch auch eine Reise tun. Und ausnahmsweise werde ich nicht selbst predigen, sondern predigen lassen. Lediglich im letzten Teil der Predigt ergreife ich dann noch mal selbst das Wort.
Wir reisen nach Rußland, nach Sankt Petersburg , ebenso bekannt unter dem zeitweiligen Namen Leningrad. Und der, der nun gleich predigt oder besser meditiert zu dem Text aus dem 2. Korintherbrief, den wir vorhin in der Lesung hörten, ist Michael Schwarzkopf, Pfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche an der Petrikirche in Sankt Petersburg. Er ist nicht bei uns zu Gast, aber wir hören nun seine, wie ich finde, doch sehr bewegenden Worte, weshalb ich mich entschieden habe, ihn heute predigen zu lassen. Er schreibt:
„Im Siegespark von Sankt Petersburg stand bis 1941 eine Ziegelei. Sie wurde in ein Krematorium umgewandelt – die Leichen von gefallenen sowjetischen und deutschen Soldaten von der nahen Front und von verhungerten Zivilisten (Russen und Angehörige vieler anderer Nationalitäten, die in Leningrad lebten) wurden hier verbrannt. Der Leiter dieses Kriegskrematoriums zählte sie, lange Zeit. Als die Zahl 500.000 erreicht war, hörte er auf zu zählen. Den Wenigsten dürfte heute noch bekannt sein, dass allein durch die Hungerblockade von ganzen Städten wie um Leningrad oder durch die Beschlagnahmung der Ernten auf dem Land wie in der Ukraine um die sieben Millionen Menschen unter der NS-Besatzung in der Sowjetunion starben.
Im Korintherbrief schreibt Paulus: „Solange wir in dieser Hütte sind, seufzen wir und sind beschwert, weil wir überkleidet werden wollen, damit das Sterbliche verschlungen werde von dem Leben.“ Und ich frage mich, wenn ich das unendliche Leid sehe, das der Krieg über dieses Land gebracht hat, ob diese Überkleidung mehr sein kann als das Gras, das auf der Asche der Hunderttausenden von Sankt Petersburg wächst.
Paulus ist gewiss: „Der uns dazu bereitet hat, das ist Gott, der uns als Unterpfand den Geist gegeben hat. So sind wir denn allezeit getrost und wissen: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.“ Er schrieb diese Worte in einem Brief an die Gemeinde der Großstadt Korinth, in einer Zeit schwerer Konflikte in der Gemeinde und zwischen der Gemeinde und ihm selbst. Paulus wollte mitten im Konflikt deutlich machen, dass christliche Gemeinden einen Auftrag haben, der wichtiger ist als das Austragen von inneren Streitigkeiten: Das Licht Gottes zu zeigen, das in der Finsternis leuchten will. Das können wir nicht aus eigener Kraft – Gott hat uns dazu seinen Geist gegeben, der jetzt schon wirkt, wo wir im Finstern sind, auch im Dunkel unserer Erinnerung an die Schrecken des Krieges und im Bewusstsein der Fragilität des Friedens und des menschlichen Lebens. Paulus schrieb das an die erste christliche Gemeinde der großen, von Menschen aus vielen Nationalitäten bevölkerten Hafenstadt Korinth. Menschen auf das göttliche Licht hinzuweisen, damit konnte sich die kleine Gemeinde in der großen Stadt überfordert fühlen.
So überfordert kann sich die kleine Gemeinde in der Petrikirche, mitten in der riesigen Stadt St. Petersburg, heute fühlen, wenn wir 80 Jahre nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion und 80 Jahre nach dem Beginn der Blockade Leningrads daran denken, dass wir Zeugen für Gottes Licht sein sollen, mitten in der Finsternis der Welt. Für die Gemeinde der Petrikirche kommt noch ein weiterer Gedenktag hinzu: Am 28. August jährt sich zum 80. Mal der Tag, an dem Stalin befahl, die Russlanddeutschen zu deportieren. Aus vielen Orten der Sowjetunion, vor allem aus dem Wolgagebiet, aber auch aus Leningrad, wurde über eine Million von Deutschen nach Kasachstan und Sibirien transportiert, also verschleppt. Sie verloren ihr Zuhause und viele von ihnen verloren auch ihr Leben: Die sechs Wochen Fahrt im Viehwaggon überlebte nur die Hälfte der Deportierten. Auch beim Bäumefällen in Sibirien, durch Hunger und unzureichende medizinische Versorgung in den Verbannungsgebieten war die Sterblichkeit hoch. Die lutherische Kirche der Sowjetunion war zu jener Zeit schon vernichtet, die Petrikirche wurde als letzte evangelische Kirche des Landes 1937 geschlossen, ihr letzter Pfarrer wurde Anfang 1938 erschossen. Die kleine Gemeinde, die heute die Petrikirche mit neuem Leben füllt, buchstabiert seit ihrer Neugründung im Jahr 1991 jeden Gedenktag neu die Worte von Paulus: Solange wir im Leibe wohnen, weilen wir fern von dem Herrn; denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen. In diesem Glauben haben wir unser Zuhause gefunden, mitten im Gedenken, in den Wohnvierteln, wo vor 80 Jahren die Front verlief, im Park, wo die Asche der Hunderttausenden liegt, in der Kirche, die steinerne Zeugin der Vernichtung des russischen
Luthertums in der sozialistischen Diktatur unter Stalin wurde und 1941 dann Zeugin von Krieg und Blockade durch die deutschen Nationalsozialisten wurde. Schwer ist es, daran zu denken. Schwer ist es, im Gedenken allen gerecht zu werden. Schwer ist das für unsere kleine Gemeinde aus Russlanddeutschen, Russen und Deutschen, und für mich als Pastor, der ich ja selbst aus Deutschland stamme, also aus dem lange Zeit hilfreichen, fernen Deutschland mit seiner für die evangelische Kirche Russlands wichtigen lutherischen Tradition, und dem 1941 dann zugleich schrecklich nahen Deutschland, das der Stadt Leningrad Tod und Vernichtung gebracht hat. So ist es ein Trost, dass Gottes Licht hier Klarheit bringt für uns alle. Offenbar wird, was wir tun – wie wir gedenken und neu bauen – vor den gnädigen Augen unseres Richters, wie Paulus schrieb: Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi, auf dass ein jeder empfange nach dem, was er getan hat im Leib, es sei gut oder böse. So finden wir unser Zuhause neu, weil wir in dieser Hoffnung für Versöhnung zwischen Russen und Deutschen arbeiten. Dies geschieht in der Hoffnung auf Gottes Frieden, auf Gottes ewiges Haus, an dem wir durch Gedenken und Versöhnung heute schon mit bauen, gerade an dem Ort, wo so viele Häuser und Leben zerstört wurden. Denn wir wissen: Wenn unser irdisches Haus, diese Hütte, abgebrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.“
Liebe Schwestern und Brüder in Christus, soweit die Gedanken von Michael Schwarzkopf, Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Petersburg.
Mich berührt, wie er ehrlich beschreibt, wie mühsam und herausfordernd die Arbeit für Frieden und Versöhnung ist. Ob in Brüssel, in Sankt Petersburg oder in Köln – überall können wir sie finden, die Spuren von Krieg und Vernichtung, von Gewalt und Terror und menschlichem Versagen und menschlicher Bestialität. Aber überall sind wir auch Spurenzeichner von Versöhnung und Frieden und dabei verbunden mit dem guten Geist Gottes und im Glauben unterwegs und gehalten.
Ein anderer eher visionärer und Mut machender Bibeltext, von dem ich gerne noch mal zwei, drei Dinge herausheben möchte, soll deshalb am Schluss der heutigen Predigt stehen. Im Prophetenbuch Jesaja Kap. 2, Verse 2-5 hören wir die bildhaften Worte der sogenannten Völkerwallfahrt zum Berg Zion:
„Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des HERRN Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des HERRN, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Hause Jakob, lasst uns wandeln im Licht des HERRN!“ Amen. In der Vision der Völkerwallfahrt zum Berg Gottes – wohlgemerkt Zion ist nicht einfach der Berg Israels, sondern der Berg Gottes – wird beschrieben, wie sich der Frieden im Unterschied zum Unfrieden vollziehen wird.
Ein paar markante Punkte möchte ich da gerne hervorheben, und zwar weil sie so im Text selbst hervorgehoben sind.
Heiden sind im Text erwähnt. Das ist kein Schimpfwort für Ungläubige, wie es uns im heutigen Sprachgebrauch begegnet. In der Bibel wollte das Wort lediglich besagen: aller Völker außerhalb von Israel. Heiden sind also Volksangehörige aller anderen Völker, die nicht Israel sind. Ein ganz neutrales Wort: die ganze Völkerwelt außerhalb Israels und nicht etwa Ungläubige wie im heutigen Sprachgebrauch.
Diese Völker, so die göttliche Vision des Jesaja, werden also sagen: „Kommt, lasst uns hinaufgehen zum Berg des HERRN, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen!“
Das ist die große Friedensvision, dass wir uns alle versöhnen, weil wir uns bei Gott treffen, mit Gott versöhnen. Wir kommen nicht in ein Land um es zu beherrschen oder uns beherrschen zu lassen, sondern wir kommen auf den Berg Gottes, damit Herrschaft übereinander und Unfriede endgültig aufhört. Und nur da können wir uns mit allen Nationen und Religionen treffen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wo eben nicht die einen über die Anderen herrschen oder die einen die Anderen belehren.
Hier wird keine Kulturüberlegenheit Israels oder Europas oder sonst wessen gelehrt. Nein, hier hören wir: Gott selbst ist der Lehrmeister – so heißt es im Text: „Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des HERRN Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Nationen und zurechtweisen viele Völker.“ Und unter diesen Völkern bleibt Israel eingeschlossen. Auch Israel steht unter dem Richtungsweisenden und unter seinem Gericht.
Viele denken, das Gericht kommt erst nach diesem Leben. Nein, es trifft uns schon jetzt. Die Folgewirkungen unversöhnlichen Verhaltens und ungerechten Verhaltens und ungerechter Verhältnisse sind jetzt schon Gericht.
Aber es gibt die Möglichkeit einer ganz anderen neuen Ausrichtung und es gibt die Möglichkeit des Lernens. Man kann den Frieden lernen und den Krieg verlernen. Das ist das Mutmachende in dieser Vision: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen machen und ihre Spieße zu Sicheln. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“
Frieden ist nicht einfach da oder nur die Abwesenheit von Krieg. Nein, Frieden ist ein Lernprozess, und zwar ein durchaus mühsamer. Meine katholische Oma, die den zweiten Weltkrieg erlebt hatte, war mal ganz entsetzt als ich als Kind mit Soldatenfiguren gespielt hatte und fand das ganz schrecklich und wollte mir das verbieten. Ob das eine pädagogisch sinnvolle Maßnahme ist, darüber lässt sich wohl trefflich streiten. Aber sie hatte offenbar ein Bewusstsein für diese Worte aus dem Jesajabuch: den Krieg kann man lernen und verlernen, so wie man auch den Frieden lernen und verlernen kann. Und es war gut, dass sie so reagiert hatte, denn sie hatte mich damit durchaus zum Nachdenken gebracht.
Ich habe das Kriegsspielzeug lange behalten, aber im Herzen hat die Oma die Friedensbotschaft gesät und wach gehalten. Gott möge uns alle zum Frieden führen und uns dabei Hörende sein lassen auf diejenigen Alten, die uns dazu noch etwas zu sagen und zu erzählen haben mögen. Wenn sie mal nicht mehr da sind, muss Gott die Botschaft umso fester in unser Herz geben, so wie es Jesus tat, der sagte: „Steck dein Schwert zurück. Denn wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen.“ Amen!