Gott ist dennoch Israels Trost für alle, die reinen Herzens sind.
Psalm 73,1
Ihr Lieben, wenn uns unser Herz nicht verdammt, so reden wir freimütig zu Gott, und was wir bitten, empfangen wir von ihm; denn wir halten seine Gebote und tun, was vor ihm wohlgefällig ist.
1.Johannes 3,21-22
Heute wird gerne über das nachfolgende Kindergebet gespottet: „ich bin klein. Mein Herz ist rein. Darf niemand außer dem lieben Jesulein hinein“. Viele sehen darin die Gefahr, dass sich daraus Weltfeindlichkeit oder Weltflucht entwickeln könnte und gerade Welt und Glaube zu sehr als Gegensetze gesehen würden, ja, dass damit eine Verteufelung der Welt einherginge. Nun besagt das Gebet aber nicht zwingend, dass man sich gegenüber allem in der Welt abgrenzen möchte und kann. Es will ja einfach nur festhalten, dass es gute und schlechte Energien und Einflüsse in der Welt gibt und dass unser Herz davor geschützt sein möge. So verstanden und gedeutet entspricht dies auch voll und ganz dem biblischen Verständnis des Herzens, weil es auch nach der Bibel Zentrum unserer Identität, unseres Seins und unseres ganzen Denkens ist und nicht einfach der Ort des Gefühls oder der Liebe, wie es sonst oft bei uns verstanden wird. Es geht also um unser inneres Zentrum, um unsere ganze Identität. „Wer bin ich? Und wenn ja, wieviele?“ – dieser Witz, geistert neuerdings fast inflationär durch die Gegend. Aber er bringt das auf den Punkt, was für viele Menschen zu einem Problem geworden ist: die Frage nach ihrer Identität und Authentizität. Und das hängt sehr damit zusammen, dass sich inzwischen bestimmter Zwänge unseres Inneren bemächtigt haben oder bemächtigen wollen, die uns förmlich zerreißen. Ideologien und Ansprüche in unserer Gesellschaft, denen wir genügen wollen und doch nicht können oder genügen müssen und doch nicht wollen. Der Perfektionsdrang ist nur eine von den vielen, die Allverfügbarkeit eine andere, Erfolg und ewige Jugend wieder eine andere. Und da scheint ja inzwischen auch sehr verräterisch ans Tageslicht zu kommen, welche Werte diese Gesellschaft tatsächlich vertritt, wenn sich vor dem Hintergrund der Coronakrise mehr und mehr Politiker oder andere einflußreiche Menschen zu Wort melden, die meinen, dass das Leben nicht das höchste Gut sei, was unsere Gesellschaft zu schützen habe. Sie meinen es sicher anders und mögen in ihren einzelnen Ausführungen auch Recht haben, aber sie sollten sich sehr genau überlegen, was sie da sagen.
Das ist nicht nur ein Tabubruch (das wäre gar nicht schlimm, denn es gibt viele unsinnige Tabus), sondern widerspricht dem Geist und Wortlaut unserer Verfassung und den zehn Geboten. Natürlich muss man, um politisch zu weisen Entscheidungen zu kommen, Güterabwägungen vornehmen. Das darf aber nicht dadurch geschehen, dass der Schutz des Lebens grundsätzlich an die zweite Stelle gerät. Wo das geschieht, offenbart es nur den zerstörerischen Charakter unseres Wirtschaftssystens, dem alles und jedes geopfert wird. Natürlich muss die Wirtschaft leben, damit auch wir leben. Aber „die“ Wirtschaft ist nicht heiliger als das Leben, schon gar nicht ein bestimmtes System, sondern sie hat eine (für alle!) lebensdienliche Funktion und daran muss sie in ihrem Wert gemessen werden und so organisiert werden, dass sie diesem Anspruch genügt. „Die“ Wirtschaft ist kein Selbstzweck und kein anonymes Gebilde. Es sind Menschen, die sie machen mit bestimmten Zielen und Prioritäten.
Da mögen sich Manche spöttisch lachend und kopfschüttelnd über so ein Gebet eines kleinen Menschenwesens erheben, aber sie zeigen damit nur, wie naiv sie selbst sind und nicht erkannt haben, wie sehr sie selbst schon längst äußeren Einflüssen erlegen sind und womöglich schon innerlich vergiftet sind und ihnen der Blick dafür fehlt, was alles ihre Identität schon zerbrochen hat und das Leben schwer macht. Nein, diesen oben genannten falschen Ideologien und Lebensmaximen möchte ich jedenfalls nicht gedankenlos folgen. Martin Luther hat Gott einmal so definiert: „Gott ist das, woran Du dein Herz hängst“. Da kann jeder in sich gehen und überlegen: Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele? Woran hänge ich mein Herz und woran will ich es hängen?
Dietrich Bonhoeffer, im KZ ermordeter Pfarrer, Theologe und Widerstandskämpfer hat in seiner Gefangenschaft ein sehr authentisches, sehr ehrliches, glaubhaftes Gedicht/Gebet zu dieser Frage geschrieben:
Wer bin ich?
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
Wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.
Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer der Siegen gewohnt ist.
Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott,
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.
(Andacht von Pfarrer Dr. Gerhard Wenzel)